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Alle Jahre wieder

von

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Anis-Fenchel-Kümmel-Tee und Röschen

„Und hast du denn schon in deinen Briefkasten geguckt?“
 

Ich überlege, ob sie das ernst meint. Dabei wechsle ich von durchnässten Straßenschuhen zu lauwarmen Hausschlappen. Ich überlege weiter. Ja, sie meint das ernst. Dann sage ich ihr, dass ich schon in meinen Briefkasten geguckt habe.
 

„Ja, da hab ich schon reingeguckt.“
 

Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen geschlaucht. Freitage sind oft so launisch wie Montage. Und momentan sind alle krank. Abteilungsleiter Warnkes Atem rasselt wie eine Kette, Denise klagt ja ohnehin immer und über alles (und alle), Elke ist gar nicht erst gekommen und Dario ist zwar tapfer, seine Nase läuft aber wie nichts Gutes. An mir zieht sowas meistens glimpflich vorbei, dreimal aufs Holz geklopft. Meine Nase läuft dann, wenn ich etwas Scharfes esse. Ich wollte eigentlich auch noch Kochen.
 

„Ja, na das ist ja schön! Und war da auch etwas drin?“
 

Ich bin gerade nach Hause gekommen, ich bin völlig durchweicht, es ist Freitagabend und ich telefoniere mit meiner Großmutter, die so tut, als wäre ich noch immer vier. Manchmal wünscht man sich das ja auch. Nochmal Kind zu sein, keine Verantwortung zu haben, alles hinterher getragen zu bekommen und jegliches Essen vorgesetzt und nahrhaft serviert zu bekommen. Aber das ist nun mal vorbei.
 

Man kommt morgens um sieben Uhr siebenundvierzig ins Büro, das Radio ist schon an, es läuft Feliz Navidad, Abteilungsleiter Warnke grunzt und rasselt sein obligatorisches 'Morg'n', denn bei Abteilungsleiter Warnke gibt es keine 'E's („Frau Müll'r, das Dokum'nt müsst' mal kopi'rt w'rd'n“; „D'r Kaff'' ist l''r“; „F'liz Navidad“). Ich grüße zurück („Guten Morgen“) und Denise (= Frau Müll'r) legt los und wirft mir an den Kopf, was für ein unguter Morgen es doch ist. Fast als sei es Freitag der Dreizehnte. Ist aber nur Freitag der Elfte Dezember. Dann ruft Frau Liebknecht an und unterstellt mir, dass ich zu leise spreche, woraufhin ich lauter spreche, woraufhin auch sie lauter spricht, woraufhin ich noch lauter spreche und von Abteilungsleiter Warnke einen irritierten Seitenblick bekomme und von Denise ein neugieriges Starren. Dabei hat Frau Liebknecht nur sehr schlechte Ohren, und deshalb kommt es auch zu keinem Vertragsabschluss, weil wir uns gegenseitig nicht verstehen und uns unverstanden wieder trennen müssen („Sie haben da bei TicketsHier ja wirklich ein sehr schlechtes Kundenbetreuungspersonal!! Bei Ihnen will ich gar keine Eintrittskarten kaufen!! Guten Tag!!“).
 

Dario versichert mir in der Mittagspause schniefend, dass ich mich sehr höflich und korrekt verhalten habe. Das freut mich. Dario ist der Auszubildende zum Bürokaufmann. Er ist auch höflich und korrekt. Aber er ist nur der Auszubildende. Trotzdem lieb von ihm. Aber ich bin eigentlich immer höflich und korrekt zu den Kunden. Und zu meinem Arbeitscomputer, auch wenn der mich zum wiederholten Male hängen lässt. Mitten in einer Eintrittskartenbuchung hängt sich das Ticketbuchungsprogramm auf und der Computer stürzt ab. Daraufhin ist der Kunde am anderen Ende der Leitung sehr bestürzt, weil er befürchten muss, nicht mehr die gewünschten Tickets erwerben zu können. Deshalb legt er auf, mit den Worten, er werde sich die Karten schnell woanders besorgen. Tja.
 

Das ist der Moment, in dem ich mir das Headset vom Kopf absetze, mich aufsetze und tief durchatme. Nur, um die Ausdünstungen von EDV-Hinnerk einzuatmen, der sich gegenwärtig mit meinem Computerproblem beschäftigt. Das ist dann der Moment, wo ich freiwillig in die Küche gehe, um noch eine Runde Kaffee für alle zu holen, denn der ist laut Abteilungsleiter Warnke wieder mal „l''r“. Unterwegs plaudere ich mit Kollegen aus den Finanzen, in der Küche mit den Kollegen vom Marketing und auf dem Rückweg mit den Kollegen von der Veranstaltungseinpflege.

Das klingt jetzt so, als sei ich sehr kommunikativ und interessiert, aber ich bin ja wie gesagt nur höflich und korrekt, deshalb stoße ich niemanden vor den Kopf, der sich mit mir unterhalten will. Und sei es auch nur über das Wetter („Kack Wetter heute, oder?“= Veranstaltungseinpfleger Rolf, „Hmhm“= Ich). Zurück im Büro hat EDV-Hinnerk dann meinen alltäglichen Begleiter runter gefahren und neu gestartet, deshalb muss ich mich nochmal neu anmelden („Du musst dich nochmal neu anmelden“=EDV-Hinnerk, „Hmhm“= Ich). Der Anmeldebildschirm leuchtet mir grell ins Gesicht, ich drücke die Helligkeit herunter und tippe ein: Benutzername – samantha.vogel Passwort – melone78 . Dann schiebt mich EDV-Hinnerk wieder beiseite und ich hänge meine Jacke zurück über die Stuhllehne, die ist im Eifer des Gefechts wohl runter gefallen.
 

Denise beschwert sich über den Zustand des Kaffees, ich bleibe höflich und korrekt und zucke nur mit den Schultern, Denise beschwert sich über das Wetter („So unweihnachtlich!“), Dario zuckt auch nur mit den Schultern und lächelt mir sacht zu, Denise beschwert sich über die Schwierigkeit des Weihnachtsgeschenkekaufens, Warnke grunzt („Dario, kommst du mal“), Dario niest und steht auf, bei mir ruft ein Kunde an, deshalb setze ich mein Headset wieder auf, Denise beschwert sich über die Headsets, der Kunde will Karten für ein Musical kaufen, Denise muss zur Toilette und im Radio läuft Last Christmas.
 

EDV-Hinnerk schlurft zurück in die EDV, Dario verteilt Schokolade, die er für unsere Abteilung mitgebracht hat (Team Call Center, yeah), Denise beklagt sich darüber, dass Schokolade dick macht, es ohne Schokolade aber ja kein Weihnachten geben kann und jeder deshalb in diesem Dilemma steckt, ich stecke mir die Schokolade genüsslich in den Mund, draußen peitscht der Wind den Regen gegen das Bürofenster, im Radio wird berichtet, dass der Weihnachtsmarkt heute geschlossen bleibt aufgrund des Sturms, Denise beklagt sich, dass sie heute doch über den Weihnachtsmarkt gehen wollte. Denise geht früher, weil es ja Freitagnachmittag ist.
 

Warnke verlässt um sechzehn Uhr vierundzwanzig zum ersten Mal an diesem Tag seinen Stuhl, Dario sieht mich an, ich starre auf meinen Bildschirm und mir fällt auf, dass in der rechten oberen Bildschirmecke ein kleiner Riss ist, ich war`s nicht, Warnke kommt wieder zurück, wir drei schweigen uns an, es ist fast besinnlich, weil auch niemand anruft und Dario und ich deshalb nichts zu tun haben. Ich überlege, dass Dario ja Auszubildender ist und immer genauso lange arbeitet, wie ich, und ich arbeite immer länger, als ich muss, weil ich es einfach mache, und dabei sammeln sich die Überstunden an, und er sollte seine mal langsam abbauen, immerhin ist er ja der Auszubildende und ich bin seit drei Jahren ausgelernt.
 

Dann ruft Frau Liebknecht wieder an, anscheinend hat sie vergessen, dass der Eintrittskartendienstleister TicketsHier ja wirklich ein sehr schlechtes Kundenbetreuungspersonal hat, und dass sie bei uns gar keine Eintrittskarten kaufen will, Guten Tag. In der Leitung knackt es seltsam, und da ist es ja kein Wunder, dass sie ihren Gesprächspartner nicht verstehen kann, wenn die Verbindung so schlecht ist, ich fummele trotzdem ein wenig an meinem Headset-Kopfschmuck herum, währenddessen schnauft mir Frau Liebknecht ins Ohr und murmelt irgendetwas vor sich hin. Anscheinend ist Frau Liebknecht eine alte, verwirrte, in einem belehrenden Tonfall sprechende Frau, und irgendwie tut sie mir leid. Und ich bin höflich und korrekt, und wir unterhalten uns diesmal einigermaßen nett, und dann ist es kurz nach siebzehn Uhr, und ich räume meinen Platz auf und fahre meinen Computer herunter und Dario räumt seinen Platz auf und fährt seinen Computer herunter.
 

Wir verabschieden uns von Abteilungsleiter Warnke, der verabschiedet uns mit einem Grunzen und wir gehen aus dem Gebäude heraus und hinein ins schlechte Wetter, und Dario bietet mir seinen Regenschirm an, weil ich keinen dabei habe, und Dario niest und ich lehne seinen Schirm ab, weil er schon erkältet genug ist, und dann sieht er unglücklich aus, wie er da steht mit seinem Schirm, und ich in meine Straßenbahn steige in die eine Richtung, und er auf seine wartet in die andere Richtung und mir hinterher schaut.
 

Es ist grell und voll in der Bahn und auf dem Weg von der Haltestelle zur Haustür werde ich von der Dunkelheit verschluckt und vom Regen durchnässt und dann finde ich meinen Schlüssel nicht und der Wind fegt durch die geschnittenen Hecken. Und dann finde ich meinen Schlüssel doch und gehe in den Flur, und dann habe ich vergessen, in den Briefkasten zu gucken und gehe nochmal vor die Tür und hole die Post. Dabei finde ich den Brief, und ich bin zu nass und zu müde, um irgendetwas davon zu halten, und ich schleppe mich bis ins dritte Stockwerk nach ganz oben und schließe die Tür auf. Und die Heizung rattert und ich schäle mich aus meiner Jacke und ich denke, dass ich mal meinen Mantel aus dem Keller holen müsste, und dann klingelt das Telefon und es ist meine Großmutter. Und sie fragt:
 

„Und hast du denn schon in deinen Briefkasten geguckt?“
 

Und ich antworte: „Ja, da hab ich schon reingeguckt.“

Und sie sagt: „Ja, na das ist ja schön! Und war da auch etwas drin?“
 

Und ich sage: „Ja, da war etwas drin.“
 

Nämlich ein Prospekt über einen neueröffneten Pizza-Lieferdienst, ein Informationsbrief von der Telekom an alle Hausbewohner, das Monatsmagazin der christlichen Stadtteil-Gemeinde und der Brief, den meine Großmutter meint. Meine Finger sind kalt, die durchweichten Handschuhe lege ich auf die Heizung und betrachte das Fenster, an dem hat sich Wasser gesammelt, deshalb müsste ich mal beim Vermieter anrufen. Eigentlich. Aber eigentlich habe ich jetzt auch Feierabend und Wochenende und deshalb will ich mich jetzt eigentlich auch um gar nichts kümmern. Deshalb würde ich eigentlich gerne sagen:
 

„Du, jetzt passt es mir gerade nicht. Ich rufe dich zurück, wenn es mir besser passt.“
 

Ein ganz akzeptabler Satz. Und auch höflich und korrekt. Aber weil es meine Großmutter ist, und weil man zu meiner Großmutter niemals sagt, dass es einem gerade nicht passt, mit ihr zu sprechen, weil man es einfach niemals zu ihr sagt, sage ich stattdessen:
 

„Danke für die Einladung, Oma, die ist wieder sehr schön geworden, so wie jedes Jahr.“
 

Dabei habe ich den Brief noch nicht geöffnet. Ich will es eigentlich auch gar nicht. Ich brauche es auch nicht, ich weiß ja, was drin ist. Eine selbst gebastelte, etwas morbide, nach Großmutter-Haushalt riechende Einladung zum Weihnachtsessen. Als ob sie dafür Einladungen verschicken müsste. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass unsere Familie an Weihnachten zusammen kommt und es ein großes Festessen gibt. Etwas anderes kommt nicht infrage. Genauso, wie es nicht infrage kommt, meine Großmutter am Telefon abzuwimmeln. Auch ein ungeschriebenes Gesetz. Deshalb setze ich mich, durchgefroren und müde, in meiner unbeleuchteten Küche an den Tisch und lasse ihren gebauchpinselten Redeschwall über mich ergehen („Diesmal sind sie doch wirklich etwas besonderes geworden, oder etwa nicht, doch doch, oder, hach ja!“=meine Großmutter, „Hmhm“=Ich, „Und für nächstes Jahr habe ich mir auch schon das Muster und die Verzierung ausgeguckt, da wirst du auch begeistert sein!“=Großmutter, „Hmhm“= wieder Ich).
 

Die hohe und kahle Birke vor meinem Küchenfenster wird vom Wind hin und her geworfen und draußen wird irgendwo laut gehupt, und irgendwo im Haus läuft grade die Waschmaschine. Bei mir ist die Wäsche schon seit vorgestern gewaschen und hängt über dem Wäscheständer und stinkt nach Wäsche. Mir fällt ein, dass ich noch abwaschen wollte. Träge richte ich mich auf und schlurfe durch meine Küche ins Schlafzimmer, meine Großmutter erzählt von dem begeisterten Zuspruch der Nachbarn, Freunde und Familienangehörigen auf ihre Bastelkünste, so wie jedes Jahr, ich schlurfe vom Schlafzimmer ins Badezimmer, meine Großmutter informiert mich über die Auswahl an Torten und Kuchen, die es bei ihrer Traditionsbäckerei zu kaufen gibt und welche Torten und Kuchen sie für die Familie für das Weihnachts-Kaffee-und-Kuchen-Buffet zubereiten wird, so wie jedes Jahr. Ich schlurfe vom Badezimmer zum Abstellraum, mache ihn auf, mache ihn wieder zu, als mir das Altpapier entgegen fällt, meine Großmutter klärt mich über den Unterschied von verschiedenen Mehlsorten auf, ich klemme mir das Telefon unters Ohr, ich fange an, die Wäsche zusammenzulegen, meine Großmutter lacht herzlich über einen Film, den sie am vergangenen Dienstag im ersten Programm gesehen hat, ich bin höflich und korrekt und lache mit.
 

Dann wird sie ernst und sagt:
 

„Dein Opa hätte die Einladung sicherlich auch schön gefunden.“
 

Ich bestärke sie, dass mein Großvater die Einladung garantiert auch schön gefunden hätte. Dabei unterschlage ich, dass er sich nie etwas aus ihren Weihnachtsbegeisterungen gemacht hat. Dass er sich auch nie etwas aus ihren Basteleien oder Kochereien oder aus den Familienzusammenkünften gemacht hat. Meinen Großvater habe ich auch niemals als meinen Opa bezeichnet, aber auch das unterschlage ich. Und auch, dass meine Großmutter für mich keine Oma ist, sage ich ihr nicht. Denn natürlich ist sie meine blutsverwandte Oma und mein Opa war mein blutsverwandter Opa, weil sie die Eltern meiner Mutter sind, respektive waren, denn mein Großvater ist vor einem Jahrzehnt gestorben. Und er war weder herzlich, noch interessiert, noch lustig, noch sonst irgendetwas, das einen Opa ausmacht. Deshalb war er für mich immer nur der Großvater. Und meine Großmutter mag auf andere eloquent und talentiert und belesen und begeistert wirken, aber mit ihr bin ich niemals warm geworden, und das werde ich auch niemals werden, denn dafür bin ich inzwischen einfach erwachsen genug, und deshalb ist sie meine Großmutter.
 

Aber weil ich anständig bin, und sie auch ehrlicherweise oder vielleicht auch eher feigerweise nicht verletzen will, nenne ich sie Oma und widerspreche ihr nicht und telefoniere mit ihr und lasse mich einlullen in ihren Monolog, obwohl mir der Magen knurrt und ich mich ganz weit weg wünsche. Dabei bin ich weggezogen, als ich alt genug war, raus aus der Stadt, in der mein Kindheitshaus steht, in dem meine Eltern nach wie vor wohnen, in das sie sich meine Großmutter geholt haben, nachdem sie befürchteten, dass diese nach dem Tod meines Großvaters alleine vereinsamen würde (als wäre sie mit meinem wortkargen Großvater an ihrer Seite nicht bereits einsam gewesen).
 

Aber dafür wurden eben Telefone erfunden, damit die hergestellte und gewollte Distanz durch einen einfachen Anruf überwunden und sich meine Großmutter in meinen Feierabend einnisten kann, und ich nichts dagegen tue, weil ich sowieso nichts dagegen tun kann. Genauso wenig wie meine Mutter, die wohl nichts so sehr bereut, als ihre damalige Entscheidung, ihre eigene Mutter aus Barmherzigkeit aufzunehmen und dafür für die restliche Lebenszeit meiner Großmutter von dieser bevormundet zu werden. Denn obwohl es das Haus meiner Eltern, der Garten meiner Eltern, der Hund meiner Eltern, die Küche meiner Eltern, und der Kühlschrank meiner Eltern ist, bestimmt meine Großmutter, was mit all diesen Dingen geschehen soll und welches Futter der Hund zu bekommen hat und womit der Kühlschrank zu befüllen ist. Und natürlich bestimmt auch nicht meine Mutter, was es an Weihnachten zu essen gibt, sondern meine Großmutter, die ihre ganze Zeit, von der sie ja als Rentnerin reichlich hat, in diese finale Endjahresessensplanung investiert.
 

Ich weiß, dass meinen Eltern das nicht gefällt, aber genau wie ich, sind sie auch zu feige, um sich gegen die herrschenden Umstände aufzulehnen und gehen einfach den Weg des geringsten Widerstandes. Wir wären wunderbare Frontschweine gewesen, hat mein Opa mal gesagt, bereit uns abknallen zu lassen, damit wir bloß den Mund nicht aufmachen müssen, und ja, mein Opa, denn der Vater meines Vaters, das ist mein Opa. Hermann Hahn ist ein lustiger, liebenswerter, manchmal etwas grantiger aber sehr herzlicher älterer Herr, und bei all den Strapazen, die so ein Weihnachtsessen mit sich bringt, freue ich mich jedes Jahr darauf, ihn zu sehen. Und er freut sich darauf, mich zu sehen, und seinen Sohn zu sehen, und deshalb bringt er es bisher auch jedes Mal über sich, meine Großmutter mütterlicherseits zu ertragen, um seine Verwandten um sich zu haben.
 

Kurz notiert:

„Herrgott, wie mich diese Frau aufregt! Ich hasse sie!!“

Hermann Hahn (mein Großvater), im Abstellraum meines Elternhauses, 24. Dezember 2009
 

Ich habe die Wäsche zusammengelegt und klemme mir das Telefon unter das andere Ohr, falte den Wäscheständer zusammen und verstaue ihn im Abstellraum, wo ich dem fliehenden Altpapier einen Tritt versetze, um es in seine Schranken zu weisen. Derjenige, der vorhin gehupt hat, scheint nun in eine handfeste Auseinandersetzung geraten zu sein, zumindest brüllen sich irgendwelche Leute draußen an, was ich trotz des Sturmes hören kann. Ich gehe zum Fenster und starre nach draußen, ich finde den Streit unter mir Unbekannten dort unten weitaus interessanter, als den Inhalt der Informationsbroschüre über Energieeinsparungstipps, die mir gerade von Roselia Vogel, meiner Großmutter, vorgelesen werden. Dann stellt sie die eine Frage, und ich bin fast erleichtert, denn das bedeutet, dass ihr die oberflächlichen Themen ausgegangen sind und sie sich einmal kurz den wirklich wichtigen Dingen im Leben widmen muss:
 

„Was ist denn mit deinem Bruder?“
 

Ja, das ist sie, die eine Frage. Und mit dieser Frage meint sie nicht etwa: So, meine liebe Enkelin Samantha, nachdem ich dich zwar nicht gefragt habe, wie es dir geht, möchte ich mich jetzt aber nach dem Wohlbefinden deines jüngeren Bruders erkundigen. Denn meine Großmutter lässt sich nie etwas zu schulden kommen, das sind immer andere Leute. Wie zum Beispiel mein Bruder. Denn mein Bruder ist auch ausgezogen, als er volljährig wurde, und hat zugleich einen Schlussstrich gezogen. Deshalb meint sie auch eigentlich mit dieser Frage, die sie mir seitdem jedes Jahr stellt und somit das Ende des anderthalbstündigen Telefonates einläutet:
 

„Kommt dein Bruder dieses Jahr wieder nicht zum Familienweihnachtsessen (und verschmäht somit meine Inbrunst und Aufopferungsbereitschaft, um die mich zwar keiner von euch gebeten hat, die ich aber jedes Jahr vollziehe, damit ihr mich mit Lob überhäuft!)?“
 

Der letzte Teil ist der Subtext, den ich verbalisiert habe. Denn obwohl ich im gesprochenen Wort nicht viel zustande bringe, laufen meine Gedanken zumeist auf Hochtouren. Und deshalb lasse ich auch meine Gedanken alle möglichen Antworten erdenken, antworte aber nur schlicht:
 

„Nein, der kommt nicht.“
 

Damit hat sie ihre Antwort, die sie ohnehin schon kannte, gibt noch einige ihrer Ansichten preis („Dein Bruder ist so anders als wir anderen!“, „Was macht er denn an Weihnachten, so ganz allein, er sollte sich wirklich nicht so ausgrenzen..“, „Und auch was er da studiert, also das passt auch so gar nicht zu ihm!“) und ich drehe mit meinem Hausschlappen Kreise auf dem Boden und klemme mir das Telefon wieder unter das andere Ohr. Und dann sagt sie, dass sie Weihnachten gar nicht mehr abwarten kann, sagt, ich solle mich nicht erkälten und dass mein Vater derzeit einen üblen Schnupfen hat und zu dick sei, weil meine Mutter anscheinend den Hund mästet und meinen Vater, dass es deshalb auch besonders viel gutes Gemüse geben wird, dass das ja auch gut sei für meine ältere hochschwangere Schwester, dass diese sich einen wirklich gutaussehenden Mann besorgt habe, dass ich mir daran ein Beispiel nehmen solle, damit meine Schwester und mein Schwager mich nicht mehr mitnehmen müssten mit dem Auto, und dass wir früh genug losfahren sollen, damit wir pünktlich zum Essen da sind. Und dann verabschiedet sie sich und es ist schlagartig still.
 

Mir fällt auf, dass ich noch immer kein Licht angemacht habe und anscheinend im Halbdunkel die Wäsche zusammengelegt habe und ich überlege, ob ich mich nicht einfach ins Bett lege und die Decke über den Kopf ziehe und dass dann morgen ein neuer Tag ist. Aber dann knurrt mein Bauch und ich gehe doch in die Küche, stelle das Telefon auf die Station, sehe, dass es eine neue Nachricht auf der Mailbox gibt und höre sie ab. Es ist meine Mutter.
 

„Hallo Sam, ich bin's.“
 

Meine Mutter hat mich bei meiner Geburt Samantha genannt, und ich habe beschlossen, dass mir der Name nicht gefällt, deshalb stelle ich mich, seit ich klein bin, mit: Ich bin Sam vor. Aber nicht wie der Filmtitel gesprochen, also Ich bin Säm. So nicht. Sondern so wie Samstag, nur ohne stag. Eben Sam. Ganz einfach. Fanden die Lehrer in der Schule nicht. Finden die Kollegen und Abteilungsleiter auch nicht. Dario hat damit kein Problem, er hat verstanden, dass ich Sam heiße und nicht Säm. Aber Dario ist nur der Auszubildende und sechs Jahre jünger als ich. Ich dränge den Gedanken an ihn und das, was er anscheinend für mich empfindet, beiseite. Meine Mutter sagt:
 

„Ich wollte dich nur vorwarnen, dass deine Großmutter dich heute anrufen wird! Sie hat schon wieder die Einladungen verschickt, dabei könnte sie sich das wirklich sparen!!“
 

Und dann lausche ich den Worten meiner Mutter auf dem Anrufbeantworter, die sie dort um vierzehn Uhr zweiundzwanzig hinterlassen hat, zu der Zeit muss meine Großmutter also außer Haus gewesen sein, sonst würde meine Mutter solche Worte niemals laut aussprechen. Und sie klingt auch so gehetzt, als ob sie befürchtet, dass Roselia jeden Augenblick wieder zur Tür herein kommt. Roselia nennt sich selbst übrigens gerne Röschen, und mich nennt sie natürlich Samantha, obwohl mich sonst niemand so nennt. Außer der Benutzername von meinem Arbeitscomputer.

Kritisch betrachte ich meine Fingernägel, während ich zuhöre, wie meine Mutter Annette über Röschen herzieht. Dann kaue auf einem Nagel herum, weil mir eingefallen ist, dass man das als Zeitvertreib machen kann, während ich auch die Nägel der anderen Hand inspiziere.
 

Kurz notiert:

„Ich werde einfach nicht klüger, ich bin wirklich so doof! Jedes Jahr denke ich, dieses Mal wird es vielleicht nicht so wie sonst, und ich falle jedes Mal wieder drauf rein!!“

Annette Vogel-Hahn (meine Mutter), im Badezimmer meines Elternhauses, 24. Dezember 2013
 

Zum Schluss sagt meine Mutter noch, dass sie sich auf ihre Kinder freut, und dass sie es schade findet, dass Adam, also mein jüngerer Bruder, nicht kommt, und dass Sandra, also meine ältere Schwester und ihr Mann Berend sich ein neues Auto zu Weihnachten gekauft haben, weil der ungeborene Knirps ja auch genug Platz braucht, und dass sie es kaum erwarten kann, auch bald Oma zu sein („Dann bin ich Oma Nette, das ist einfacher für den Kleinen, als Oma Annette zu sagen!“) und dann verabschiedet sie sich auch und es ist wieder still.
 

Und diesmal lege ich den Hörer gar nicht erst beiseite, sondern krame aus dem Altpapier den Handzettel von dem neueröffneten Pizza-Lieferdienst heraus, bestelle mir eine große Salami Pizza, von der ich mich das ganze Wochenende über ernähren werde, drehe die Dusche auf und dusche heiß, ziehe meinen warmen, dunkelroten Schlafanzug an, bezahle den Lieferboten und lege mich ins Bett und esse Pizza und schaue belangloses Fernsehen, bis ich einschlafe (um zweiundzwanzig Uhr dreizehn).
 


 

+
 

Es vergeht eine Woche, in der ich nochmal Ruhe habe vor meiner Familie.

Allerdings nicht vor dem Wahnsinn des Büroalltags. Elke fällt bis Weihnachten komplett aus, so schwer hat es sie erwischt, und Denise beklagt sich, dass wir anderen jetzt noch mehr Arbeit haben. Dabei war das Weihnachtsgeschäft im letzten Jahr sehr viel stressiger, aber das kann Denise ja nicht wissen, denn da hat sie noch nicht für TicketsHier gearbeitet, sondern unschuldige Leute angerufen und irgendwelche unseriösen Umfragen geführt, weil ihr Arbeitgeber irgendwelche unseriösen Dinge vorhatte. Aber wir sind ja alle nur geduldet, und selbst Denise wurde die Unseriosität zu blöd, und seitdem sitzt sie mir im Rücken und im Nacken und beschwert sich über alles, das ihr unter kommt. Abteilungsleiter Warnke lässt Dario dies und das tun und ich bin höflich und korrekt zu allen und vor allem zu besonders unhöflichen und unkorrekten Kunden, die unbedingt Karten für Reinhard Mey kaufen wollen, obwohl TicketsHier diese gar nicht anbietet.
 

Dafür bietet TicketsHier seinen Mitarbeitern eine Weihnachtsfeier am Freitagabend den Achtzehnten Dezember, und weil alle daran teilnehmen, und weil ich nichts anderes vorhabe, nehme ich auch daran teil. Die große Überraschung ist keine Überraschung, denn es gibt wie jedes Jahr ein großes Buffet mit kalt-warmen Speisen, die zwar verträglich, aber nicht so delikat sind, wie das Essen von Röschen. Aber ich bin trotzdem ganz zufrieden, als ich in der Betriebsküche sitze und Kroketten und Rotkohl und Soße und Braten verputze, während die Kollegen aus der Veranstaltungseinpflege fleißig Glühwein ausschenken, und die Kollegen aus dem Marketing Bier, und die Kollegen aus der EDV und den Finanzen diverse andere Spirituosen, an denen ich mich zum Teil beteilige, und von denen ich zum Anderen Teil die Finger lasse, um nicht unterm Tisch zu enden, so wie Denise und Oli aus der EDV.
 

Abteilungsleiter Warnke trinkt wie jedes Jahr zwei Bier, dann macht er sich auf den Weg und weil Denise unterm Tisch liegt und Elke krank ist und Dario zu meiner Abteilung gehört und sich mit den anderen Auszubildenden nicht so gut zu verstehen scheint, begleitet er mich, als ich mich auf den Weg nach Hause mache. Es ist kurz vor eins, ich bin seit einem Jahr (nämlich seit der letzten Weihnachtsbetriebsfeier) nicht mehr für meine Verhältnisse so spät unterwegs gewesen, und während ich gut angeheitert bin, ist Dario irgendwie sehr ernst und bevor er mich in die Straßenbahn in meine Richtung setzt, da küsst er mich und ich fahre nach Hause und bin verwirrt.
 

Am Samstagmorgen bin ich noch immer verwirrt, und müde, und ich habe Kopfschmerzen.

Und das Telefon klingelt, und als ich ran gehe, ist es mein Bruder Adam.
 

„Hallo Sam, ich bin's.“
 

Anscheinend fällt der Apfel nicht weit vom Stamm, oder man traut mir grundsätzlich zu, jeden nur anhand dieses Satzes zu erkennen. Naja. Bisher habe ich zumindest meine Mutter und jetzt meinen Bruder identifizieren können. Ich habe zwar einen Kater, aber ich freue mich auch, ihn zu hören.
 

„Oh, Adam, das ist ja toll, dass du anrufst!“
 

Ich setze Wasser auf, um mir einen Tee zu machen, gucke in den Kühlschrank auf der Suche nach Eiern und Speck (beides abgelaufen, na toll), während er sich entschuldigt, dass er sich so lange nicht gemeldet hat und ich abwiegele, dass ich mich ja auch so lange nicht mehr gemeldet habe.
 

„Du arbeitest eben viel, da ist das doch klar, dass du nicht so oft Zeit hast.“
 

Sagt er, und das Teewasser ist heiß und ich suche meine Lieblingstasse (die mit dem blauen Blumenmuster, die von IKEA, die natürlich nicht abgewaschen ist, denn meine Küche ist zu klein für eine Spülmaschine, und eine solche lohnt sich auch gar nicht für eine Person). Dann nehme ich eine andere Tasse und schütte das Wasser hinein und betrachte den Dampf, der aufsteigt und überlege, welchen Beuteltee ich hinein tun soll. Viel steht nicht zur Auswahl (Pfefferminze und Anis-Fenchel-Kümmel-Tee, wer auch immer sich so etwas ausgedacht hat).
 

„Naja, und du hast ja auch viel zu tun mit deinem Studium, oder nicht?

Wie läuft das denn? Alles guti?“
 

Frage ich ihn und überlege, ob ich noch immer nicht ganz klar bin. Dann entscheide ich mich für Pfefferminze, Anis-Fenchel-Kümmel-Tee ist mir für den Moment zu abenteuerlich. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie diese Packung in meinen Schrank gekommen ist, ich bin sicher, dass ich so etwas Seltsames nie gekauft habe, mag es auch irgendwelche mir unbekannten Superheilungskräfte haben.
 

„Ja, alles gut bei mir.“
 

Sagt Adam, und ich werde den Eindruck nicht los, dass er mich anlügt. Dabei setze ich noch immer all meine Hoffnungen in ihn, dass er unsere Familie eines Tages wieder zusammen führen wird. Er studiert nämlich Psychologie, und deshalb hat er in dem Bereich auch eine Menge auf dem Kasten. Und deshalb will ich auch nicht, dass er mich belügt. Er kann sich nämlich gut mit Worten ausdrücken, und er kann auch das gut ausdrücken, was in ihm vorgeht, und das kann ich nämlich nicht. Aber ich merke, wenn mit ihm etwas nicht stimmt, und das sogar, während ich einen Kater von der Weihnachtsfeier habe und mir wieder einfällt, was danach an der Haltestelle passiert ist und dass mir das mit Dario irgendwie peinlich ist. Aber ich bin eben Adams große Schwester.

Da kann man nichts machen.
 

„Also, ich glaub' aber, du bist nicht ehrlich, Adam, was ist denn los?“
 

Vielleicht hätte ich auch Psychologie studieren sollen, überlege ich. Oder überhaupt studieren. Dann würde ich jetzt nicht tagtäglich ins Büro gehen und mich mit tauben Frau Liebknechts rumschlagen, mit nervigen Denises und grummeligen Warnkes und irgendwie am Schwierigsten, mit in mich verliebten Darios. Der arme Kerl. Wie soll ich ihm bloß klar machen, dass er der Auszubildende ist und ich eine einfache Angestellte bin, die ihr Abitur und dann, um schnell von zuhause ausziehen zu können, eine Lehre zur Bürokauffrau gemacht hat, und die nichts besonderes kann oder hat oder ausmacht. Denn ich finde mich selbst, bei all den seltsamen Menschen, die mich umgeben, am Schlimmsten, weil ich denke, dass ich ziemlich langweilig bin. Irgendwie austauschbar. Ich verstehe nicht, was Dario an mir findet und in mir sieht. Und dazu kommt, dass er ja fast noch ein halbes Kind ist. Er ist ja erst achtzehn und ich bin vierundzwanzig, und wir haben zwar beide unser Leben noch vor uns, aber er hat bestimmt Ziele, und ich habe keine. Alles was ich kann, ist höflich und korrekt zu sein.
 

Und gleichgültig, das muss man wohl auch sagen. Sonst würde ich es wohl nicht überstehen, jedes Jahr Weihnachten mit Röschen und meiner Mutter (An)Nette und meinem Vater Ronald (genannt Rolli, denn meine Großmutter hat schon recht, er hat ein bisschen zu viel auf den Rippen) und dem Hund von meinen Eltern, Sokrates (ein Labrador).
 

Kurz notiert:

„Ach, was soll ich denn jetzt dazu sagen...Mensch...Das ist doch jedes Jahr wieder dasselbe...“

Ronald Vogel-Hahn (mein Vater, genannt Rolli), im Wohnzimmer seines Hauses, 24. Dezember 2011
 

Und dann eben Sandra und ihr Mann Berend, und meine Tante Anke, die Schwester meiner Mutter, und mein Opa Hermann, der Vater von meinem Vater. Früher war auch meine Oma Marga dabei, aber sie ist vor siebzehn Jahren gestorben und seitdem ist mein Opa so grantig, denn er vermisst seine Frau, und ich vermisse meine liebe Oma. Aber ich kann das alles irgendwie aushalten, weil ich eben irgendwie gleichgültig sein kann, und Adam kann das nicht.
 

Ihn beschäftigt diese ganze Familiengeschichte, er hat früher oft versucht, die Erwachsenen anzutreiben, sich auszusprechen und die ganzen Konflikte zu klären, die besonders an Weihnachten fast greifbar werden und in der Luft hängen. Aber die Erwachsenen wollten das nicht, wollten das nie, und jetzt bin ich selbst erwachsen, und ich mache es ihnen nach und mache nichts anders. Und deshalb ist Adam auch gegangen und nicht wieder zurückgekommen. Er will gerne etwas verändern, aber sie lassen ihn nicht, und er kann das nicht aushalten, und deshalb bleibt er lieber weg. Und auch, wenn ich ihn vermisse, und weil er ja mein kleiner Bruder ist, ihn auch gerne an Weihnachten oder auch überhaupt gerne sehen würde, kann ich mit seiner Entscheidung leben und akzeptiere sie. Ich habe auch gehörig Respekt vor ihm wegen dieser Entscheidung, die er so konsequent durchzieht. Das macht mich auch stolz auf ihn.
 

„Naja.. ich würde schon gerne mal alle wiedersehen, weißt du. Aber, naja...das ist so schwierig..“
 

Er klingt jetzt irgendwie bedrückt und ich schwenke den Teebeutel im heißen Wasser umher. Es verfärbt sich undefinierbar und ein bisschen grün. Adam schnieft mir ins Ohr, und ich mache mir Sorgen, dass er sich auch erkältet hat.
 

„Hast du dich erkältet?“
 

Frage ich deshalb auch, und irgendwie findet er das nicht gut.
 

„Häh? Wieso- nein, hab' ich nicht, glaube ich zumindest. Und Sam, jetzt lenk' bitte nicht ab und sei du bitte auch mal ehrlich, ja?“
 

Ich wundere mich still, was er meint.
 

„Ich meine, also, du gehst ja auch jedes Jahr hin, Sam. Und ich halt nicht. Ich hab halt gedacht, ich meine, alle gehen so selbstverständlich davon aus, dass ich nicht komme, aber eigentlich würde ich gerne mal wieder alle sehen, verstehst du. Aber andererseits weiß ich ja, dass das nie ein trautes Beisammensein und so ist, es tun alle so, als sei die Stimmung gut und das Essen toll, also, das ist ja auch immer ziemlich lecker, aber eigentlich gehen sich ja immer nur alle auf die Nerven und jeder schmeißt irgendwie mit Altlasten um sich. Eigentlich ist es fast ein Wunder, dass noch keiner körperlichen Schaden genommen hat, so wie die sich immer gegenseitig aufreiben. Also vor allem Großmutter und Mutter meine ich jetzt und so..ach, ich weiß auch nicht...“
 

Er klingt jetzt irgendwie ein bisschen verzweifelt und ich glaube, irgendwie rührt mich das an. Aber in erster Linie bin ich auch ein bisschen empört.
 

„Adam, ich kann das ja verstehen, dass du auch gerne mal Opa und Papa und Mutter wiedersehen würdest und so, aber dann besuch' die lieber einzeln, und komm dafür bloß nicht zum Weihnachtsessen! Das ist einfach echt nicht der beste Zeitpunkt, um sich mal wiederzusehen und irgendwie schön zusammen zu sitzen. Das weißt du doch, hast du ja grade selber gesagt..“
 

Ich denke, dass Adam das Beste ist, was unsere Familie je hervor gebracht hat, wie man so schön sagt. Und deshalb soll er auch sein Weihnachten bloß mit den Leuten verbringen, die auch ganz aufrichtig Weihnachten miteinander verbringen wollen. Und dazu zählen wir anderen eben nicht. Wir folgen nur dem Ruf der Gewohnheit. Weil wir das halt jedes Jahr so machen, machen wir das auch jedes Jahr so. Und Adam ist der Erste, der sich dagegen wehrt. Und das soll auch so bleiben, finde ich. Er fängt an, zu argumentieren, dass wenn jeder automatisch davon ausgeht, dass es so schlimm wird, es dann auch nur schlimm werden kann und dass wenn alle ihre Einstellung mal verändern würden, sich auch das System verändern würde. Ich denke, dass er der einzig Vernünftige von uns ist, aber dass er in diesem Punkt falsch liegt. Weil sich manche Sachen einfach nicht ändern können und wollen und manche Menschen auch nicht.
 

Und dazu zählen nun mal Röschen und Nette. Und wenn ich ehrlich bin, dann ich auch, weil ich ja auch nichts ändern will. Ich sitze das einfach aus, weil ich ja auch gar nichts anderes kenne. Und nichts anderes habe. Irgendwann lässt er von dem Thema ab und fragt mich, wie es mir geht. Ich habe meinen Tee ausgetrunken und habe kein Essen mehr im Haus. Ich habe Kopfschmerzen und Hunger und mein Kollege will etwas von mir und ich nichts von ihm. Es ist der dritte Advent und ich kann mich nicht erinnern, mich je unweihnachtlicher gefühlt zu haben. Aber was sagt das schon aus. In ein paar Wochen ist schon fast wieder Ostern und der ganze Jahreszirkus geht von vorne los. Was mir dann aber hoffentlich erspart bleiben wird, ist der Tod meines Wohnungstürnachbars.

Das sage ich Adam auch.
 

„Mein Nachbar ist gestorben, das war nicht so schön. Sonst kann ich nicht klagen.“
 

Das antworte ich immer auf die Frage, wie es mir geht. Ich kann nicht klagen. Manchmal überlege ich dann, ob das stimmt. Also, ob ich echt nicht klagen kann. Aber eigentlich gibt es ja auch nichts, worüber ich klagen könnte. Ich habe ja alles. Ein Dach über dem Kopf, einen Job, Gehalt, Essen und Trinken. Ich habe Eltern, habe zwei Geschwister, zwei Großeltern und eine Tante, bald eine Nichte oder einen Neffen, meine Eltern haben den Hund, und der Geist von meinem toten Nachbarn sucht mich allmählich auch nicht mehr heim. Alles wunderbar.
 

Kurz notiert:

„Wo ist denn der Hund..?“

Anke Vogel (meine Tante), auf der Terrasse, 24. Dezember 2014
 

Adam fragt, wann Herr Schuhmeister denn gestorben ist. Gute Frage. Ich muss überlegen. Das war glaube ich im Mai, das sage ich ihm auch und dann schweigen wir uns kurz an.
 

„Das ist ja schon ein bisschen her...Aber bestimmt geht es dir trotzdem noch nahe, oder? Ist ja auch kein Wunder. Wir müssen da ja auch nicht weiter drüber reden.“
 

Mein großartiger kleiner Bruder. Er fehlt mir wirklich. Ich nehme mir für das nächste Jahr vor, dass wir uns öfter sehen werden. Dass ich ihn besuchen fahre, und er sagt, dass er mich besuchen kommt. Und dass er auch die anderen besuchen wird, aber eben einzeln, und nicht geballt an Weihnachten, um sich in die Schusslinie zu stellen.

Das reicht nämlich, wenn ich mich da aufhalte, finde ich.
 

Ich merke, dass ich auf meinen Fingernägeln kaue. Aber irgendwie hilft mir das beim Nachdenken. Außerdem muss ich sie ohnehin mal wieder schneiden. Außerdem ist es eine schlechte Angewohnheit, die ich mal lassen sollte. Außerdem, wer kann schlechte Angewohnheiten schon ablegen. Außerdem ist ein komisches Wort. Außerdem verabschiedet Adam sich und dann sitze ich da. Es ist Samstagmorgen, in weniger als einer Woche ist Weihnachten, ich habe noch kaum ein Geschenk organisiert, ich habe einen knurrenden Magen, die Wohnung von meinem verstorbenen Nachbarn ist neu renoviert und wird die ganze Woche schon besichtigt, ich habe Kopfschmerzen und als ich mein Smartphone in meiner Handtasche finde, sehe ich, dass Dario versucht hat, mich zu erreichen und ich nichts davon mitbekommen habe.
 

Ich hadere mit mir selbst, ich weiß nicht, was ich machen soll, und dann bin ich ganz pragmatisch und mache mein Handy einfach aus. Und ziehe mich aus und stelle mich unter die heiße Dusche und lasse mich einfach wegspülen.
 

Zumindest für eine Viertelstunde, dann hat das Leben mich wieder. Ich trockne mich ab, ziehe mich an, föhne meine Haare und schalte dann das Radio in der Küche ein. Es läuft Feliz Navidad.
 

Próspero año y felicidad ~ !


Nachwort zu diesem Kapitel:
Da ich bei so viel Text allmählich betriebsblind bin, nehme ich Rechtschreibkorrekturen gerne entgegen! :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  KiraNear
2015-12-25T22:39:25+00:00 25.12.2015 23:39
Eine interessante FF, mit einem interessanten Stil. Hab ich so in der Art auch bisher noch nie gelesen. Auch finde ich die Zitate gut, so bekommt man noch etwas mehr von den Charakteren mit, und wie sie so drauf sind. Ich wüsste jetzt ehrlich gesagt auch nicht, ob ich so viel große Lust auf die Familienfeier an ihrer Stelle hätte^^°
 
Tolle Geschichte :-)


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