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Abhandlung über das Zusammensetzen von Glasscherben

von

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Schatten in der Ecke

Tanzende Lichter auf meiner Haut. Sie tauchen mich in rot, grün und blau, ohne mich wirklich zu beleuchten. Vielmehr verschleiern sie meine Makel und zeigen nur das, was andere von mir sehen wollen. Ich fühle mich unwohl in diesem Licht, tausend gefährlich blitzende Augen könnten in den Schatten nach mir lechzen, sich heranschleichen und ganz unbemerkt näher kommen, immer näher. Mit einer leichten Gänsehaut drehe ich mich zu Raily um, der hinter mir steht und seine Discokugel verliebt anschmachtet. „Wieso nochmal hast du dieses Ding gekauft?“, frage ich ihn mäßig interessiert. Eigentlich möchte ich einfach nur, dass er das Teil wieder ausmacht und die Rollos hochzieht. Es ist Tag, wieso kann er nicht wie jeder andere ebenfalls das Tageslicht nutzen? Stattdessen jedoch bin ich es, der einen empörten Blick erntet aufgrund meiner Unverfrorenheit eine vernünftige Erklärung von ihm zu verlangen. Ich weiß es zwar auch so, aber er soll es zugeben und dann dieses Teil wieder zurückbringen.
 

„Ich mag Discolichter eben. Und ist doch cool bei der nächsten Party sowas im Wohnzimmer zu haben, findest du nicht?“ Sein Tonfall wechselt von kindisch-trotzig zu kumpelhaft und schmeichelnd. Wenn er etwas kann, dann das. Erst soll man sich schuldig fühlen und im Gegensatz zu anderen kann er dieses Masche verwenden. Sein Gesicht und sein Körper wirken unschuldig, jede Bewegung von ihm schreit einem entgegen, dass man ihn unter keinen Umständen verletzen will. Und dann wird man mit einem lieben Lächeln dazu gezwungen seine Argumente zu akzeptieren. Es klappt immer wieder, obwohl er wirklich kein Sprachtalent ist. Er braucht nur seine Ausstrahlung. Allerdings hat er ein Problem. Mich. Ich habe seine Ausreden noch nie einfach hingenommen und ich werde sicher nicht jetzt damit anfangen.
 

„Du hast unseren Kronleuchter abgenommen und durch eine Discokugel ersetzt. Wieso? Und könnten wir das Gespräch bitte bei Tageslicht fortführen?“ Hätte er nicht die Fernbedienung der Kugelstrahler versteckt, bevor er mich ins Wohnzimmer gelotst hat, das Ding wäre schon ausgeschaltet und von der Decke geholt wurden. So muss ich mich aber in ermüdender Kleinarbeit an seine Beweggründe herantasten und ihn zwingen sie zuzugeben. Vorher wird er das Licht nämlich nicht ausmachen, so wie ich ihn kenne. Natürlich könnte ich ihn auch durch ein kleines, sadistisches Spielchen dazu zwingen, aber er hatte mich erst kürzlich gebeten, ihn nicht auf diese Weise zu manipulieren. Da ich seine Wünsche akzeptiere, bleibe ich also weiterhin bei den üblichen Methoden.
 

Ein Kopfschütteln seinerseits veranlasst mich dazu meine Hand nach ihm auszustrecken und ihm über die Wange zu streichen. „Ich weiß ja, dass du das Teil da wirklich magst, aber deswegen hast du es nicht gekauft. Komm schon, sag mir, was los ist.“ Wie gesagt, insgeheim ist mir klar, was für einer Laune wir die Discokugel verdanken. Er hat manchmal so Anfälle von Jugendlichkeit. Momente, in denen ihm eiskalt bewusst wird, dass seine unschuldige Ausstrahlung zwar noch da ist, er aber nicht mehr 16 ist. Um das fehlende Gefühl zurückzubekommen, geht er shoppen. Mal ist es eine hautenge Jeans, die er mit nach Hause bringt und an deren Anblick ich mich durchaus erfreue. An anderen Tagen jedoch ist es ein exotisches Haustier, das er sich schon immer gewünscht hat, für welches er als Jugendlicher jedoch kein Geld hatte. Ich frage mich bis heute, wie er es vor zwei Jahren geschafft hat das absolut einzige und jemals in dieser Zoohandlung gewesene Exemplar einer Schleiereule zu erwerben. Das arme Tier ist kurz darauf einfach tot umgefallen, als unser Golden Retriever mit unbändiger Freude über das neue Familienmitglied gegen den Käfig gesprungen ist. Raily konnte sich das nicht verzeihen und hat geschworen nie wieder aus Frust zu shoppen. Die Discokugel ist aber kein Albtraum von mir, fürchte ich.
 

Inzwischen windet er sich ziemlich, was in mir leichte Verwirrung hervor ruft. Normalerweise habe ich ihn an diesem Punkt schon längst so weit. Dann reden wir darüber und ich zeige ihm, dass er sich mit 25 noch lange keine Sorgen ums Altern machen muss. Wir harmonieren in dieser Hinsicht super miteinander, denn durch ihn bekomme ich das Gefühl gebraucht zu werden. Aber selbst wenn er mich nicht brauchen würde, in dem Moment, wenn wir nach dem Sex nebeneinander liegen und ich meinen Kopf nur ein ganz klein wenig nach rechts drehen muss, um in sein Gesicht zu sehen, fühle ich mich wunderbar. Seine Mimik ist frei von allen Sorgen und das hallt in mir wieder. Erst durch ein Problem lernt man das Glück zu genießen. Raily widerspricht mir zwar andauernd bei dieser Lebensphilosophie, aber ich denke trotzdem, dass es der Grund ist, wieso wir schon so lange zusammen sind. Wir ergänzen uns, wir können Probleme lösen und uns danach intensiver denn je wieder vertragen. Woher kommt nur das dumpfe Gefühl, dass es diesmal nicht so einfach ist?
 

Seine Hand umschließt meine, die immer noch an seiner Wange liegt. Mir wird jetzt erst klar, dass sein Blick irgendwie... besorgt wirkt. Dann küsst er mich und schließt dabei die Augen. Was auch immer ich vorher gedacht habe, jetzt verstehe ich wirklich nichts mehr. Will er den Sex vorziehen? Ich müsste lügen, um zu behaupten, dem völlig abgeneigt zu sein. Meine Hand gleitet aus seiner, fällt von seiner Wange und trifft mit meiner anderen Hand hinter seinem Rücken zusammen. Ich ziehe ihn an mich, seiner Wärme konnte ich noch nie widerstehen. Als ich die Augen schließe, verschwinden die Lichter und ich fühle mich gleich viel entspannter. Vielleicht hat er das ja geplant, um mich doch noch dazu zu bringen, die Discokugel zu akzeptieren. Ob er wirklich glaubt, damit Erfolg haben zu können? Ich nehme es mit einem Schmunzeln hin und genieße seine Hände, die langsam unter mein T-Shirt gleiten.
 

Seine Hände gleiten unter mein T-Shirt? Mein Gehirn wird allmählich etwas langsamer, trotzdem kommt mir das seltsam vor. Ich bin der direktere von uns beiden, er lässt sich immer viel mehr Zeit. Ist heute einfach alles anders oder hat es einen Grund? Ich löse den Kuss ein wenig, um Luft zum Nachdenken zu kriegen. Er bemerkt es gar nicht, so beschäftigt wie er ist. Eindeutig, das ist nicht sein typisches Verhalten. Dazu die Discokugel und sein besorgter Blick... „Raily, versuchst du mich abzulenken?“ Er stockt, sieht mich entsetzt an und weicht drei Schritte vor mir zurück. Erwischt.
 

Wäre die Situation nicht dermaßen seltsam, würde ich ja lachen, so jedoch bin ich einfach verwirrt. „Du bist der Teufel.“ Wird mir nun vorgehalten, allerdings nicht sehr überzeugend. Ich kann Menschen nur gut beobachten und das weiß er auch. Also wieso hat er überhaupt versucht mich abzulenken und von was eigentlich? Bevor ich nachfragen kann, schaltet er jedoch erst mal die Scheinwerfer aus und zieht die Rollos hoch. Plötzlich scheint er sehr bereitwillig meine Wünsche zu erfüllen, auch wenn sein Blick ein wenig verletzt ist, da ich seine Täuschung durchschaut habe. Deshalb lässt er sich für das Hochziehen der Rollos extra viel Zeit und kommt danach keineswegs zu mir zurück, eher muss ich zu ihm kommen.
 

„Soo, was ist los?“ Statt einer Antwort darf ich nun feststellen, dass im Versteck der Fernbedienung noch etwas liegt. So schnell wie er vorhin vor mir zurück gewichen ist, konnte ich es nicht genau sehen, doch nun holt er den Gegenstand ebenfalls raus und hält ihn mir mit spitzen Fingern hin. „Ein Brief?“ Denn was anderes ist es nicht, ein schlichter, weißer Briefumschlag mit ein paar bunten Briefmarken. Als ich ihn an mich nehme, sehe ich meinen Namen und meine Adresse darauf. Links oben steht der Absender aus Deutschland. Mir wird flau im Magen. Telefonanrufe bin ich gewohnt, SMS auch. Aber Briefe sind neu.
 

„Ich habe noch nicht rein geguckt. Und eigentlich wollte ich ihn dir gar nicht zeigen, aber vermutlich hast du ein Recht darauf, oder so.“ Railys Wut hat nicht sonderlich lange gehalten. Er steht jetzt wieder ganz nah neben mir und hat einen Arm um meine Schultern gelegt. Ich habe gar nicht mitbekommen, wann er das gemacht hat. Schutz suchend lehne ich mich an ihn und betrachtete weiter den Absender. Die Schrift ist mir fremd, nicht vollkommen, doch sie hat sich in den letzten 7 Jahren stark verändert. Der Name ist allerdings noch der gleiche. Trotz der Scheidung hat sie den Namen behalten und mein Herz stockt und freut sich gleichzeitig über das winzige Stück Vertrautheit.
 

„Wieso schreibt mir meine Mutter?“ Frage ich Raily leise. Durch unsere Nähe spüre ich, wie er die Schultern zuckt. Er braucht es nicht extra zu sagen, ich weiß auch so, dass ich den Brief öffnen muss, um meine Frage beantwortet zu kriegen. Die Sache ist aber, ich wohne nicht umsonst in den USA, während meine ganze Familie in Deutschland lebt. Und es ist auch kein Zufall, dass ich sie seit 7 Jahren nicht mehr gesehen habe. Das Geld für den Flug ist schließlich vorhanden. Bisher schienen alle meinen Willen nicht Zurückzukommen gut akzeptiert zu haben, wieso nun also dieser Brief?

Verdrängungsstrategie

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Flugzeugerinnerungen

Ich werfe einen Blick auf Raily, der neben mir am Fenster sitzt und muss lächeln. Er ist eingeschlafen. Kein Wunder, denn es war eine kurze Nacht und eine stressige Fahrt zum Flughafen. Daraus haben wir gelernt im früh morgendlichen Verkehr der Berufstätigen nicht zum Flugzeug zu wollen. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft rechtzeitig anzukommen und unsere Plätze in der zweiten Klasse in Anspruch zu nehmen.
 

Das Flugzeug ist vor mittlerweile zwei Stunden gestartet. Ich habe nicht die geringste Ahnung, worüber wir gerade fliegen. Und wenn ich ehrlich bin, reizt mich die Aussicht auch nicht so sehr. Eher hänge ich meinen Gedanken nach. Mit Raily habe ich bisher nur Kleinigkeiten besprochen, wo wir unterkommen werden oder ob sein Deutsch noch akzeptabel ist. Die meiste Zeit über unterhalten wir uns auf Englisch und vermutlich ist meine Muttersprache ein wenig eingerostet, aber ich konnte Raily beruhigen, denn man versteht ihn durchaus. Vor Jahren hat er nämlich mal einen Deutschkurs an der Universität belegt, wodurch wir uns auch kennen gelernt haben. Sein Professor hielt ihn für so fähig, dass man ihn bat mich herumzuführen.
 

Zwar war ich damals leicht unwirsch, weil man mir weder zutraute verständliches Englisch zu sprechen noch mich auf dem Campusgelände zurechtzufinden, aber inzwischen habe ich eingesehen, dass mir nichts besseres hätte passieren können, als ihn kennen zu lernen. Wir hatten anfangs so unsere Differenzen. Zum einen war er mir bereits zwei Semester beim Studium voraus, obwohl wir gleich alt waren und zum anderen habe ich seine Art gehasst. Er mochte meine ebenfalls nicht, ebenso wenig wie meine Geheimnisse, meine Fähigkeit ihn zu durchschauen und meine Vorsichtigkeit, geboren aus der Angst erneut verletzt zu werden. Wir haben trotzdem zueinander gefunden, irgendwie.
 

Ich denke, in vielen Dingen haben wir einander verändert. Und auch wenn ich gerade Zeit brauche meine Gedanken zu ordnen, weiß er, was ich empfinde. Vermutlich weiß er das sogar besser als ich, denn ich bin hauptsächlich verwirrt. Übermorgen findet die Hochzeit statt und ich bange davor meine Mutter und Aron wiederzusehen. Sie und ihr Geheimnis waren damals ein Teil des Ganzen, vor dem ich nach Amerika geflüchtet bin. Sicherlich werden aber nicht nur sie da sein. Meine kleine Schwester Nicole, die jetzt 6 ½ Jahre alt sein müsste, wird auf jedem Fall dort sein. Ich kenne sie nicht mal, sie wurde geboren, kurz nachdem ich in Amerika die Schule wieder aufgenommen habe. Vor einiger Zeit habe ich ein Foto von ihr gesehen und meiner Meinung nach sah sie aus wie alle anderen, kleinen Mädchen. Pausbäckig, große, blaue Augen und blonde Locken. „Unser kleiner Engel“ stand unter dem Bild.
 

Aber außer ihr habe ich ja noch zwei Geschwister, Phil und Patrick. Wir sind Drillinge. Es war damals ein ziemlicher Schock für unsere Eltern, die bei unserer Geburt kaum 20 Jahre alt gewesen sind. Ein Kind und wenn es auch ungewollt gewesen war, wäre vermutlich noch in Ordnung gewesen, doch drei Kinder waren kaum fassbar. Aber sie haben uns bekommen und es viele, viele Male bereut, vermute ich. Nicht dass sie das je gesagt hätten, aber es gab einen Zeitpunkt, an dem mir vieles klar geworden ist, auch die Tatsache, wie es stark es ihre Ehe zerstört haben muss, mit gleich drei Kindern konfrontiert zu werden. Sie verloren ihre Jugend und ihre Liebe, trotzdem waren sie gute Eltern.
 

Daher habe ich auch eigentlich noch ein einigermaßen normales Verhältnis zu meinem Vater. Er ruft ab und zu an und ich erzähle ihm ein paar Dinge und er mir. Lang sind diese Gespräche nie, doch das ist schon ok. Wir verstehen uns. Er ist zudem der einzige aus der Familie, der weiß, dass ich mit Raily zusammen bin und mein Studium noch nicht fertig habe, während Raily im Moment ein einjähriges Praktikum in einer Bank macht. Deswegen tippe ich darauf, wird er ebenfalls bei der Hochzeit sein. Würde er nicht mit Mutter im Kontakt stehen, wäre wohl kaum Railys Name auf der Karte gewesen. Dass die Hochzeit allerdings genau in meine Semesterferien und seinen Urlaub fällt, halte ich für Zufall.
 

Ob ich wohl sonst noch jemanden kenne, der auf der Hochzeit sein wird? Vielleicht ein paar alte, gemeinsame Freunde von Aron und mir und ein paar Verwandte, die ich früher gelegentlich zu besonderen Anlässen gesehen habe, aber außerhalb dieser Vermutungen weiß ich rein gar nichts über Arons und Mutters Leben. Macht mich das traurig? Ein wenig schon. Aron war mein bester Freund seit ich denken konnte. Wir haben viel miteinander erlebt, doch noch mehr habe ich mit meinen beiden Brüdern zusammen gehangen. Diese Verbindungen haben sich allerdings aufgelöst wie eine Brausetablette in Wasser. Daran haben wir alle unsere Schuld. Mir macht es unheimlich viel Angst sie alle wiederzusehen und einen Teil meiner Schuld eingestehen zu müssen, das heißt, wenn sie auch mal mit offenen Karten spielen würden.
 

Das ist ja das eigentliche Problem. Wir alle waren nicht ehrlich zueinander und das hat unser Leben von innen heraus zerfressen. Wann es angefangen hat, kann ich nur ahnen. Aber ich weiß, wann es für mich begonnen hat. Damals, an unserem 16. Geburtstag, haben wir eine Party veranstaltet. Es ist reichlich Alkohol geflossen und für mich wohl zu viel. Irgendwann mitten in der Nacht habe ich einen Jungen geküsst und es hat sich unfassbar toll angefühlt. Vorher hatte ich mich weder sonderlich für Mädchen noch für Jungs interessiert, doch schwul wollte ich auf keinem Fall sein. Als ich es dann plötzlich war, stürzte mich das in eine leichte Sinneskrise, in der ich mich selbst neu erkundete und meine Vorstellungen vollkommen auf den Kopf gestellt wurden. Es dauerte ein halbes Jahr, bis...
 

„Peer, hör auf soviel nachzudenken. Du wirst davon nur depressiv.“ Eine verschlafene Stimme neben mir reißt mich aus meinen Gedanken und fast gegen meinen Willen muss ich grinsen. Mir egal, wer uns zusieht, ich beuge mich zu Raily hinüber und gebe ihm einen züchtigen Kuss auf die Lippen. Er blinzelt ein wenig überrumpelt und sieht mich fragend an. Tja, soll er auch mal erfahren, wie es ist, wenn er mich ohne Vorankündigung aus meinen Gedanken reißt. „Ausgeschlafen?“ Frage ich ihn nun und er schüttelt den Kopf. Ich bin sowieso zu müde um zu schlafen, also versuche ich es erst gar nicht. Aber sonst fühle ich mich gar nicht so schlecht, Raily scheint es jedoch anders zu sehen, denn er sieht mich besorgt an.
 

Gekonnt ignoriere ich diesen Blick und verwickle Raily stattdessen in ein Gespräch über die deutsche Küche. Wir werden eine ganze Woche in Deutschland verbringen und in einem nettem, kleinem Hotel unterkommen. Frühstück und Mittagessen sind im Preis inbegriffen. Für Raily ist alles Essbare außerhalb von selbstgemachten Salaten und Fast Food totales Fremdland. Ich kann zwar kochen, allerdings gab es bei uns zu Hause meist auch nur Gerichte aus Italien, dem Lieblingsland meiner Mutter. Insofern hab ich Raily daran zwar gewöhnt, aber wie er auf Klöße, Kassler und Schnitzel reagieren wird, warte ich gespannt ab. Ansonsten bestellen wir uns eben Pizza oder Döner. Döner wollte ich ihn auch unbedingt mal kosten lassen.
 

Sonderlich erfolgreich verläuft mein Ablenkungsversuch nicht. Nach ein paar Minuten kratzt Raily seinen ganzen Mut zusammen und unterbricht mich, als ich gerade dabei bin ihm von Tee-und Leberwurst zu erzählen. „Und was machst du, wenn du Aron gegenüber stehst? Ich meine, er weiß ja nicht, dass du von seiner Affäre mit deiner Mutter wusstest und dass er zudem der Vater deiner kleinen Schwester ist. Genauso wenig wusste deine Mutter, dass du es wusstest. Aber jetzt sind wir auf ihrer Hochzeit, da könnt ihr alle das nicht mehr mehr ignorieren. Mensch Peer, du kannst noch so gelassen tun, wie du willst, dich lässt das nicht kalt.“
 

Muss er unbedingt in meinen Wunden bohren? Jetzt sehe ich ihn erst recht eiskalt und gelassen an. „Ist doch glasklar, was ich tun werde. Ich werde Aron eine reinhauen und meine Mutter als Hure beschimpfen.“ Eine ältere Dame sieht mich entsetzt an und Raily boxt mir äußerst brutal gegen die Schulter. Besser kanns doch gar nicht kommen. Mit wehleidiger Mine reibe ich mir die Stelle und greife danach nach Railys Hand, der die Geste seufzend zulässt und meine Hand sanft drückt. „Jetzt mal ehrlich, was wirst du tun?“ Ich zucke die Schultern. Da ich es nicht weiß, kann ich ihm auch keine bessere Antwort geben. Zum Glück akzeptiert er das Schulterzucken und verlegt sich darauf schweigend aus dem Fenster zu gucken. Unsere Hände bleiben verschränkt und verankern mich in der Gegenwart.
 

~~~
 

Um 21 Uhr Ortszeit landet unser Flug. Es ist verwirrend ins Flugzeug gestiegen zu sein, als es gerade hell wurde und nun im Dunkeln wieder auszusteigen. Allerdings lassen wir uns vom Jetlag nicht unsere Neugierde nehmen. Ich bin begierig zu wissen, was sich alles verändert hat und Raily will einfach alles sehen. Leichtfüßig tänzelt er im Flughafen herum, sieht aus den Fenstern, bestaunt die Menschen und versucht jedes deutsche Schild zu entziffern, während ich unser Gepäck in Empfang nehme. Ein klein bisschen genervt drücke ich ihm schließlich sein Gepäck in die Hand und ziehe ihn mit mir nach draußen, wo ein vorbestelltes Taxi wartet, das uns zu unserem Hotel bringen soll.
 

Trotz meiner Aufgeregtheit sinkt jetzt die Müdigkeit schwer in meine Knochen nieder. Von der Taxifahrt kriege ich kaum etwas mit. Ich starre dumpf aus dem Fenster und lasse graue und grüne Schatten an mir vorbeiziehen. Raily hingegen gibt manchmal ein leises, verzücktes Quietschen von sich, ein Laut für den ich ihn unter anderen Umständen zweifellos verspottet hätte. Nebenbei unterhält er sich mit unserem Taxifahrer, der ihm andauernd Komplimente für sein gutes Deutsch macht. Mehr Trinkgeld wird er jedoch nicht bekommen, ich bin derjenige von uns beiden, der noch Euros in der Tasche hat, denn Raily ist bisher nicht dazu gekommen sein Geld umzutauschen. Das veranlasst mich fast zum Lachen, aber ich bin so müde...
 

Sobald wir angekommen sind, drücke ich dem Taxifahrer den genauen Betrag in die Hand, weshalb er unsere Koffer ziemlich mürrisch aus dem Kofferraum holt und sie uns gibt. Unsere armen Koffer, sie haben ihm doch gar nichts getan. Einige Sekunden lang stehe ich nachdenklich herum, bis mir wieder einfällt, was als nächstes zu tun ist. Raily sieht mich schon wieder so besorgt an. Schwach lächelnd greife ich nach seiner Hand und wir gehen gemeinsam zur Rezeption, wo man uns ein Zimmer zuweist und die Schlüssel aushändigt. Erstaunlicherweise wird nicht noch mal extra nachgefragt, ob das mit dem Doppelbett so stimmt.
 

Mechanisch begebe ich mich über den Fahrstuhl und einen langen Flur in unser Zimmer. Raily lässt meine Hand los um die Tür aufzuschließen und ich bin selbst erstaunt, dass ich daraufhin enttäuscht seufze. Gott sei Dank bemerkt er es nicht und so beziehen wir friedlich unser Zimmer. Es ist sauber und ganz nett eingerichtet, hat einen Fernseher und eine kleine Minibar. Außerdem fühlt sich das große Doppelbett himmlisch an, als ich mich darauf fallen lasse und in voller Montur weg penne.

Jungessellenabschied

Netterweise hat Raily meinen Koffer ebenfalls ausgepackt während ich geschlafen habe und meine Sachen zu seinen in den Schrank geschmissen. Ich glaube, er hat sich wirklich Mühe gegeben ein wenig Ordnung zu halten, meinen Rasierer finde ich trotzdem nicht mehr wieder. Natürlich hat Raily erst gar keinen eingepackt, für was auch, sein Bartwuchs ist kaum vorhanden und würde sowieso nicht zu seinem Gesicht passen. Es ist einfach unfair, aber da ich ja ein freundlicher Mensch bin, verzeihe ich ihm und wir genießen dank des Zimmerservices ein gemeinsames Frühstück im Bett. Für so etwas haben wir nur selten Zeit, er wegen seines Praktikums und ich wegen des Studiums. Umso schöner sind dann Wochenenden und Ferien.
 

Viel mehr haben wir heute auch nicht geplant, ein bisschen faul im Bett herumliegen und uns von dem Flug erholen und danach eine kleine Stadtbesichtigung unter meiner Führung. Die Hochzeit ist schließlich erst morgen und ich bin beim besten Willen nicht mutig genug mich meiner Familie vorher zu stellen. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, wo der Großteil meiner Familie und Freunde inzwischen wohnt. Vielleicht nicht mal mehr in dieser Stadt. Insbesondere Katleen hatte immer wegziehen wollen, ob sie es geschafft hat? Ihr gegenüber habe ich nicht mal eine Ausrede, wieso ich mich nie mehr gemeldet habe. Ich bin wohl wirklich ein grauenhafter Kumpel.
 

Gegen Mittag sind wir bereit die Stadt zu erkunden. Raily zupft vorher allerdings noch ewig an meinen Haaren herum und streicht mir übers Gesicht. Im Gegensatz zu mir findet er den Dreitagebart nämlich klasse. Ich hege bereits leichte Befürchtungen, dass er nie mehr von meinen Gesicht ablässt, als mein Handy klingelt. Raily verdreht die Augen ob meines entschuldigenden Lächelns und weicht einen Schritt zurück. „Das sind sicher nur irgendwelche Idioten von deiner Universität, die bis gerade eben gefeiert haben und und dir jetzt unbedingt von dem berichten müssen, was du verpasst hast.“ Ich verdrehe nun meinerseits die Augen, muss ihm im Stillen jedoch recht geben. Es gibt viel zu viele Idioten in meinen Kursen und ich weiß immer noch nicht, woher sie immer meine Handynummer haben.
 

Wider Erwarten ist die SMS nicht von ihnen, sondern von meinem Vater.
 

„Hey Peer, bist du gut in Deutschland angekommen? Du hättest deinem altem Herrn wenigstens Mal Bescheid sagen können.

Jedenfalls bist du hiermit offiziell zu Arons Jungessellenabschied eingeladen. Ich hoffe, du kommst, wäre eine gute Gelegenheit vor der Hochzeit mal bisschen was zu klären.

Wir treffen uns in einer halben Stunde zum Grillen im Stadtpark. Komm zum falschen Brunnen und vergiss deinen Lebenspartner nicht. Ich würde meinen zukünftigen Schwiegersohn gerne mal kennenlernen.
 

Liebe Grüße, Dad (so nennt man seinen Vater in Amerika doch, oder?)“
 

Nach dem ersten Überfliegen lese ich Raily die SMS vor, der neugierig über meine Schulter geguckt hat. „Wieso hat er dich nicht gleich angerufen, anstatt dir eine so lange SMS zu schreiben?“ Ist seine einzige Antwort darauf. Mir sackt derweil das Herz in die Hose. Es kommt mir plötzlich viel zu früh vor und in einer halben Stunde kann ich mir unmöglich überlegen, wie ich das Treffen überstehen soll. Spontan erschrecke ich Raily damit, dass ich mich in seine Arme schmeiße und mich zu beruhigen versuche, indem ich den Duft seiner Haut ganz tief inhaliere.
 

Danach geht es mir ein bisschen besser, sodass ich tatsächlich ein Schmunzeln zustande bringe, als ich mich von Raily löse. „Na, bereit deinen zukünftigen Schwiegervater kennen zu lernen?“ Man sieht ihm deutlich an, dass er mit diesem Wort rein gar nichts anfangen kann, was mich nur noch mehr amüsiert. Damit wäre geklärt, wieso er beim Vorlesen der SMS nicht stutzig geworden ist. Seine Bitte ihm zu erklären, was es bedeutet, lehne ich konsequent ab. Irgendwie tut es mir gut ihn ein wenig zu ärgern und mich dann wieder an ihn zu lehnen. Und das beste ist, er nimmt mir mein launenhaftes Verhalten kaum übel. Ich empfinde mich selbst ja schon als anstrengend, dieser ständige Umschwung zwischen Gelassenheit und Nervosität, meine Nerven machen das nicht mehr lange mit.
 

Auf dem Weg in den Park bin ich wieder aufgeregt. Zu meinem Pech ist der Weg vom Hotel zum Park allerdings nicht so weit, mir bleibt also nicht genug Zeit um Fluchtpläne zu schmieden. Seltsamerweise erinnere ich mich auch noch ziemlich gut an an den Weg zum falschen Brunnen, denn das Teil hat mich bereits als Kind fasziniert. Ich konnte mir nie erklären, wieso jemand sich die Mühe macht eine Plastiknachbildung von einem Brunnen zu erstellen, anstatt einen richtigen zu bauen. Ich verstehs bis heute nicht und Raily findet es ebenfalls lustig, dabei kommt er aus einem Land, das voll von solchem Schwachsinn ist und sollte sowas gewöhnt sein.
 

Aber selbst wenn ich den Weg nicht mehr gewusst hätte, wir hätten uns den Weg auch erriechen oder erlauschen können. Am Eingang des Parks weht uns der Geruch von Gegrilltem entgegen zusammen mit lachenden Stimmen und dem Geklirr von Flaschen. Für einen Jungessellenabschied ist es nie zu kalt oder noch zu hell. Je näher wir der Ansammlung kommen, umso mehr bin ich versucht die Augen zu schließen, um niemanden zu sehen und erst recht nicht gesehen zu werden. Raily an meiner Seite geht jedoch unbeirrt weiter und ich bleibe artig neben ihm. „Jetzt ist es zu spät um wegzulaufen, was?“ Raily drückt meine Hand ein Stückchen fester und dann sind wir da.
 

Phil erkenne ich auf Anhieb, was nicht verwunderlich ist, da er mein eineiiger Zwilling ist. Wir sind uns noch immer sehr ähnlich, abgesehen vom Kleidungsstil und dass seine Haare länger sind, außerdem hat er keinen schicken Dreitagebart. Ziemlich nah bei ihm sitzt Pat, mein anderer, zweieiiger Zwilling, der insgesamt etwas größer und stämmiger wirkt, aber mir trotzdem beunruhigend ähnlich ist. Hektisch wandert mein Blick weiter, bleibt an bekannten und unbekannten Gesichtern hängen, bis ich Aron und Vater entdecke, die einträchtig nebeneinander am Grill stehen und Rippchen wenden. Trotz allem, was ich mir schon zusammen gereimt habe, ist die Situation merkwürdig. Doch darüber kann ich später noch nachdenken.
 

Raily drückt erneut meine Hand. Mühsam löse ich mich aus der Starre. Wahrscheinlich ist es besser mich bemerkbar zu machen, bevor jemand dazu kommt mich zu bemerken. Dann hat man nämlich viel mehr Möglichkeiten, zum Beispiel weglaufen. Unhörbar seufzend lasse ich Railys Hand los und bedeute ihm stehen zu bleiben. Sobald er nickt, schleiche ich auf Aron und Vater zu. Unglaublicherweise bemerkt mich wirklich niemand und so komme ich ungehindert bis zu Aron durch, dem ich ganz vorsichtig an die Schulter tippe. Ich habe absolut nicht die geringste Ahnung, wieso ich das mache, aber es erinnert mich ein bisschen an unsere Kindheit, wenn wir uns von hinten an den anderen angeschlichen und ihn erschreckt haben.
 

Nur sind wir keine Kinder mehr. Aron erschreckt sich nicht, sondern dreht sich grinsend zu mir um. Die vergangenen Jahren stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Er ist mit 18 Vater geworden, sein ganzes Leben muss auf den Kopf gestellt wurden sein und ich weiß nicht, wie er all das überstanden hat. Er muss sehr stark gewesen sein, aber trotzdem erkenne ich in ihm noch meinen besten Freund mit dem herausfordernden Funkeln in den Augen und der allseits guten Laune. Er hingegen erkennt mich nicht sofort. „Phil? Was ist? Sag bloß euer Bier ist schon...“ Vielleicht ist es mein Dreitagebart oder meine Haare, irgendetwas bringt ihn jedenfalls zum Stocken und sein Blick wandert einmal von meinem Kopf zu meinen Füßen und wieder aufwärts.
 

„Buh.“ Ungerührt erwidere ich seinen Blick, der inzwischen wieder bei meinem Gesicht angekommen ist. Vater dreht sich nun ebenfalls um und scheint sofort den Geistesblitz zu haben, dass ich nicht Phil bin, denn er sieht aus, als müsste er gleich vor Freude mich wiederzusehen tot umfallen. Ich lächle ihm kurz zu und wende mich dann wieder Aron zu, dessen Minenspiel eine wahre Gefühlsexplosion ist. Unsicherheit, Anspannung, Freude, Erschrockenheit, Schuldbewusstsein, Verwirrung und auf seltsame Weise auch Ruhe. Ich kann all diese Gefühle absolut nachempfinden, aber hauptsächlich finde ich das ganze gerade ungemein komisch. Ich glaube, hiernach kann Raily mich in die Irrenanstalt einliefern lassen.
 

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen,“ meine ich bezüglich Arons blasser werdenden Gesichtsfarbe und in genau diesem Moment verstummen die Gespräche hinter mir. Er sagt immer noch nichts und irgendwie läuft das hier keineswegs so, wie ich es mir in der Millisekunde, bevor ich ihn erschreckt habe, vorgestellt habe. Natürlich läuft es nicht so einfach, ich bin vor sieben Jahren wortlos nach Amerika gegangen, lediglich mein Vater wusste Bescheid, da er das Formular für meinen Schulwechsel unterschreiben musste, obwohl ich schon 18 war. Und jetzt bin ich wieder da und tue was? Genau, ich stehe mit ausdrucksloser Mine herum und begrüße meinen baldigen Stiefvater, als wären wir noch 15 und hätten keinerlei Sorgen.
 

„Krass, du lebst ja wirklich noch und wurdest nicht heimlich als Leichnam von deiner Familie im nächstgelegenen Teich entsorgt, wie wir alle angenommen haben.“ Ich war noch nie so dankbar diese Stimme zu hören. Bei Svens Worten lösen wir alle uns aus unserer Erstarrung und ich drehe mich sofort zu ihm um. Vorhin hat mein Blick ihn nur knapp gestreift, jetzt nehme ich ihn genauer wahr. Mein alter Schulfreund sieht haargenau so aus wie ich ihn mir mit 25 vorgestellt habe. Lässig gekleidet, strubbelige Frisur, schief sitzende Brille und immer noch potthässlich. Wie schön, dass manche Dinge sich niemals ändern.
 

„Das wäre doch viel zu aufwendig gewesen. Vermutlich hätten sie mich eher zu Großvater ins Grab geschmissen.“ Sven schüttelt den Kopf, lacht und kommt zu mir, um mir auf die Schulter zu klopfen. Zwei Sekunden später werde ich von meinem Vater in seine Arme gezogen und darf mich einen Augenblick lang wieder so geborgen fühlen wie ein kleines Kind. Er ist allerdings der einzige, der mich umarmt. Aron bleibt einfach auf seinem Fleckchen stehen und sieht mich unschlüssig an, während ich eine Parade voller Schulter klopfen und Hände schütteln über mich ergehen lasse. Zuletzt stehen meine Brüder vor mir, lächeln schwach und nicken mir zaghaft zu.
 

Ich meinerseits beobachte die beiden aufmerksam. Sie stehen viel zu dicht beieinander. Sind sie also noch...? Ich verdränge den Gedanken. Darüber kann ich mich sorgen, wenn der Jungessellenabschied vorbei ist. Ich möchte Aron nämlich keineswegs seine Feier ruinieren, also muss ich etwas tun um die Situation aufzulockern. Da mir das heute allerdings durchwegs missglückt, sollte ich vielleicht mal eine andere Strategie wählen. Raily steht immer noch abseits der Gruppe, unbemerkt von allen. Ich winke ihn zu mir und werde gleich von noch viel mehr verwirrten Blicken gestreift. Besonders als Raily bei mir angekommen ist und ich auf vollkommen selbstverständliche Art nach seiner Hand greife.
 

„Vater, das ist Raily. Raily, das ist mein Vater.“ Beginne ich mit der Vorstellungsrunde und kaum hat Raily sein umwerfendes Lächeln ausgepackt, ist mein Vater hin und weg. Er zieht ihn nun auch in seine Arme, was die allgemeine Verwirrung keineswegs mindert, lediglich auf Arons Gesicht dämmert sowas wie Erkenntnis. Tief Luft holend hebe ich eine Hand und winke allen zu, bis ich wirklich uneingeschränkte Aufmerksamkeit genieße. „Also Leute, ich bin schwul und das ist mein Lebensgefährte Raily. Seid nett zu ihm und redet langsam, besonders bei Beschimpfungen, damit er alles versteht und euch angemessen antworten kann.“ Stille. Der einzige, der die Situation außer mir ebenfalls mit Humor nimmt, ist mein Vater. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass mein Versuch die Situation aufzulockern gescheitert ist.
 

Ich frage mich bereits, ob es meinem minimal vorhandenen Ehrgefühl noch schaden würde, wenn ich jetzt einfach weglaufen würde, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Erstaunt sehe ich Aron an, der seine Unentschlossenheit überwunden zu haben scheint. „Es freut mich, dass du wieder in Deutschland bist. Und natürlich freut es mich auch dich kennen zu lernen, Raily. Willkommen auf meinem Jungessellenabschied. Mögt ihr Rippchen?“ Raily, der sofort dazu ansetzt die Höflichkeitsfloskel zu erwidern, wird von meiner nächsten Geste aus dem Konzept gebracht und steht mit offenem Mund da, wie ich gerade noch aus den Augenwinkeln heraus erkennen kann. Denn im gleichen Moment bin ich Aron einfach um den Hals gefallen. Gedacht habe ich wohl mal wieder nichts, aber der Großteil von mir ertrinkt gerade schlicht in Rührseligkeit, dass mein bester Freund so erwachsen geworden ist und der Rest plagt sich mit Schuldgefühlen herum, weil ich ihn damals allein gelassen habe mit seinen Problemen.
 

Mein Körper hat auf diese sentimentalen Gefühle ohne mein Zutun reagiert und so drücke ich Aron ein paar Sekunden lang halb zu Tode, bis mir wieder einfällt, wieso ich das besser nicht tun sollte. „Tut mir leid... ich freue mich auch dich wiederzusehen“, antworte ich ihm kleinlaut. Langsam werde ich wirklich depressiv von der Stille, die meinen Worten immer folgt. Ich sollte vielleicht doch Lehrer werden, dann bräuchte ich nur etwas sagen und schon wäre die Klasse still. Das ist aber nicht, was ich hier will. Soll ich Aron sagen, dass ich ihm nie sauer war? Ich hebe den Blick und sehe ihm in die Augen. Ein dankbares Leuchten steht in seinen Augen, aber auch Befremdung aufgrund meiner Reaktion. Ich finde keine Worte für das, was zwischen uns ist. Weder sind wir beste Freunde oder überhaupt noch Freunde, aber vollkommen fremd sind wir uns nicht. Wenn wir jetzt alleine wären und uns unendlich viel Zeit zur Verfügung stünde, vielleicht wäre etwas zu retten von damals...
 

Raily greift nach meiner Hand und drückt sie sanft. Ich erwidere den Druck und lehne mich ein wenig an ihn. „Wollten wir nicht Rippchen essen?“ Frage ich Aron lächelnd und er nickt. Geschickt macht er sich wieder am Grill zu schaffen und verteilt zusammen mit meinem Vater das Essen. Die beiden wirken fast wie Vater und Sohn. Ist es das, was die beiden jetzt verbindet? Wie seltsam. Aber alles hier ist seltsam. Also nehme ich mir einen Teller, verdränge die Gedanken und freue mich über die Rippchen.

Zu Hause

Mit dem Sonnenuntergang wird es allmählich kalt im Park. Nicht, dass die meisten sonderlich viel davon merken würden, sie sind einfach schon zu besoffen. Raily, Aron und ich bilden eine Ausnahme. Ich schätze mal, Aron will morgen nicht mit einem Kater Hochzeit feiern, Raily mag keinen Alkohol und ich fühle mich zu unwohl, um mich durch Alkoholgenuss noch weiter blamieren zu wollen. Leider erinnere ich mich morgens immer daran, was ich im betrunkenen Zustand getan habe, insofern ist es diesmal wirklich keine Option für mich. Deshalb sitzen wir drei in einer kleinen Gruppe zusammen und reden über möglichst unverfängliche Themen, während die anderen um uns herum es darauf anlegen jede Flasche bis auf den letzten Tropfen zu leeren.
 

Als es uns zu kalt wird, lassen wir die, die weiter saufen wollen zurück und gehen mit den anderen zu Aron nach Hause. Zuvor hat Aron uns darüber informiert, dass niemand zu Hause sei. Es war durchaus erheiternd, wie er in den Sätzen zwischen „deine Mutter“ und „Annemarie“ wechselte, weil er nicht wusste, wie er sie mir gegenüber nennen sollte. Irgendwie hat er es dann doch geschafft von ihrem Junggesellinnenabschied zu erzählen, den sie außer Haus mit ihren Freundinnen und ihrer Tochter verbringen wollte. Also würde da erheblich weniger Alkohol fließen mit einem kleinen Kind, das an ihren Rockzipfeln hängt. Bisher hat Aron kaum ein Wort über seine Tochter verloren und ich nehme mal stark an, dass das an mir liegt.
 

Auch die anderen vermeiden ernste Themen. Auf dem Heimweg sind außer Aron, Raily und mir nur noch Vater und meine beiden Brüder mit dabei. Schweigend ziehen wir durch die Straßen und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Abgesehen von meinem peinlichen Verhalten ist das erste Treffen nach sieben Jahren relativ gut verlaufen. Ich habe niemanden eine reingehauen und niemand hat mir eine reingehauen. Was will man mehr? Außerdem scheinen alle Raily zu mögen. Er lächelt unentwegt, wenn ihn jemand anspricht und bekommt Komplimente für sein ausgezeichnetes Deutsch. Zweifellos freut er sich ehrlich darüber, aber ich sehe durchaus die Blicke, die er zwischen mir und meiner Familie hin und her wandern lässt. Er wartet auf den großen Ausbruch, dass mich jemand fragt, wieso ich damals gegangen bin.
 

Teilweise verstehe ich es selbst nicht mehr. Mir ist alles über den Kopf gewachsen, aber jetzt empfinde ich es als gar nicht mehr so schlimm. Ich sehe meine Brüder an, bemerke die Blicke, die sie einander zu werfen und akzeptiere es. Ihr Verhalten war schon damals sehr auffällig. Lange bevor ich gemerkt habe, wie sich mein bester Freund und meine Mutter verhalten, wenn sie beide im selben Raum sind, ist mir klar geworden, dass sich zwischen Pat, Phil und mir etwas verändert hat. Anfangs dachte ich, es wäre ihre Reaktion auf mich. Nachdem ich meine sexuelle Orientierung bemerkt habe, habe ich mich von allen zurück gezogen und bin erst ein halbes Jahr später wieder aus meinem Schneckenhaus hervor gekrochen. Geredet hab ich allerdings nicht, sondern beobachtet. Ich wollte wissen, wie meine Familie und Freunde auf meine Vorliebe für Männer reagieren könnten.
 

Nun, Phil und Pat hätten sicher gut darauf reagiert, wenn ich es ihnen erzählt hätte, denn was ich von ihnen bemerkt habe, war um einiges verstörender. Wie gesagt, anfangs dachte ich mir nichts dabei, ich hatte mich zurück gezogen und sie waren sich näher gekommen. Ein paar Wochen lang verstanden sie sich ausnehmend gut, dann begannen sie zu streiten. Alle Schlichtungsversuche verliefen im Sand. Ich wusste ja nicht mal, wieso sie sich so stritten. Es waren total banale Themen und trotzdem schien es sie vollkommen fertig zu machen.
 

Erst als ich mich verliebte, verstand ich, womit die beiden in ihren Herzen kämpften. Sie kämpften darum ein Verlangen zu unterdrücken, von dem ihnen die Gesellschaft sagte, es sei falsch. Und ich war der gleichen Meinung. Noch mehr distanzierte ich mich von ihnen und überließ sie ihren Streitereien. Irgendwann hörten diese von ganz selbst wieder auf und die beiden wurden ein Paar. Jetzt gaben sie sich erst recht Mühe nichts nach außen dringen zu lassen, aber ich sah wieder hinter ihre Fassade. Es verstörte mich zutiefst. Ein wenig seltsam ist es noch immer, aber nicht verwunderlicher als dass Aron meine Mutter heiratet und wir durch Nicole sozusagen miteinander verwandt sind.
 

Ein Ziehen lässt mich stehen bleiben und holt mich aus meinen Gedanken. Ich werfe Raily einen verwirrten Blick zu, den dieser ebenso erwidert und anschließend auf meinen Vater deutet. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich verstehe, dass er sich verabschiedet. „Er meinte, er habe morgen früh vor der Hochzeit noch einen Kunden, den er fast vergessen hätte.“ Flüstert Raily mir zu und ich nicke dankbar. Dann trete ich auf meinen Vater zu, umarme ihn und erwidere die Verabschiedung. Ein bisschen gegen seinen Willen wird Raily ebenfalls in das familiäre Knuddeln mit einbezogen, bevor mein Vater in die entgegengesetzte Richtung davon marschiert.
 

Nun sind wir sogar nur noch zu fünft, zwei Pärchen, ein Drillingspaar, ein Amerikaner und ein baldiger Ehemann. Die Mischung ist irgendwie ulkig... und spannungsgeladen. Alle hatten früher vor mir Geheimnisse und haben sie heute noch und ich habe vor ihnen Geheimnisse, weil ich von ihren Geheimnissen weiß und ihnen das nicht sage. Nur Raily weiß ebenfalls alles, aber er würde mich niemals verraten. Bleibt also die Frage, wer von uns Vieren zuerst genug von der Heimlichtuerei hat. „Wollen wir dann weiter?“, fragt Aron in die Stille und wir nicken. Unsere Prozession der Geheimnisse zieht weiter.
 

Je näher wir dem Haus kommen, umso vertrauter werden mir die Straßen. Mit Verwunderung wird mir klar, dass dies kein Zufall ist. Mutter und Aron wohnen immer noch in dem selben Haus, in dem Pat, Phil und ich den Großteil unserer Kindheit verbracht haben. Als ich Raily meine Erkenntnis flüsternd mitteile, leuchten seine Augen auf. Erwartet er jetzt mein altes Kinderzimmer zu sehen? Das wird wohl kaum noch existieren. Vermutlich ist es kurz nach meinem Auszug zum Kinderzimmer für Nicole geworden. Vielleicht erkenne ich das Haus gar nicht mehr wieder, sieben Jahren sind eine Gott verdammt lange Zeit.
 

Nichtsdestotrotz bin ich nicht weniger neugierig als Raily. Mein Herz klopft einen Tick schneller und ich fühle mich wie auf einer Reise durch die Zeit. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.

„Herz, du klopfst so laut, jetzt nur nicht verzagen,

kein Zurück, jetzt sind wir hier.

Hör’ den weisen Rat, nutze deine Chancen,

doch die Angst sitzt tief in mir.

Zurück in die Vergangenheit führt die Reise durch die Zeit.“

Ich beginne vor mir her zu summen und ernte vier verblüffte Blicke. Raily scheint versucht an meine Stirn zu greifen, um zu überprüfen, ob ich Fieber habe. Bis Aron plötzlich in Lachen ausbricht und sich gegen die nächstbeste Laterne lehnen muss. „Was habt ihr geschluckt?“ Kommt die wohl berechtigte Frage von Pat, woraufhin Aron noch heftiger Lachen muss und ich mich auch nicht mehr zurück halten kann.
 

„Wisst ihr nicht mehr, wie Katleen uns damals dreimal hintereinander in diesen verfluchten Film geschleift hat? Also wirklich, schämt euch diesen großartigen Film einfach zu verdrängen!“ Entrüstet sieht Aron meine Brüder an, denen es langsam zu dämmern scheint. Während Pat jedoch eine arg finstere Mine macht, sieht Phil regelrecht begeistert aus. Zum einen ist er betrunken und zum anderen liebt er den Film. Er grinst mich ganz unbedarft an und ich grinse zurück. Ich mag den Film ebenfalls. Wer weiß, vielleicht wäre die richtige Gelegenheit um über die Wahrheit zu reden ja bei einer Runde Anastasia-gucken-und-Popcorn-in-sich-rein-stopfen.
 

Vorerst jedoch setzen wir unseren Weg fort und ich erzähle Raily dabei von unserer aufgezwungenen Anastasia-Kinowoche, als wir elf Jahre alt gewesen sind. Aron und Phil steuern gut gelaunt ein paar Anekdoten bei und Pat versucht hilflos sich die Ohren zu zu halten. Er hasst Disney und obwohl wir ihn darüber informieren, dass der Film eben nicht von Disney ist, behauptet er standhaft, Anastasia wäre genauso schlimm. Phil lacht zwar darüber, aber ich bin wohl nicht der einzige, der eine diabolische Strafe erwartet, als Phil Pat auf die Schulter klopft. Arons und mein Blick treffen sich. Synchron schütteln wir wissend den Kopf.
 

Durch diese kurze Episode ist das mulmige Gefühl in meinem Magen verschwunden, sodass ich nicht in Depressionen verfalle, als wir ankommen und das Haus sich tatsächlich verändert hat. Scheinbar ist weiß inzwischen out und helle Farben ebenfalls. Der neue Anstrich ist dunkelrot, die ausgetauschten Türen und Fensterrahmen glänzen dunkelgrün. Raily neben mir nickt bewundernd. „Die Renovierung ist euch echt gelungen“, meine ich zu Aron. Er sieht stolz aus. Drinnen gehen die Veränderungen weiter. Hellere Farben als außen bedecken die Wände, die Einrichtung ist hoch modern und selbst die Treppe ist nicht mehr die gleiche. „Wir haben oben zwei Wände eingerissen. Aus Phils Zimmer ist die Vergrößerung fürs Bad geworden und aus Patricks, die für Ni... dein altes Zimmer.“ Aron sieht mich nicht an, im Gegensatz zu gerade eben wirkt er hier schuldbewusst.
 

Wir begeben uns in die Küche und setzen und uns an den Küchentisch. Ich sitze dem Kühlschrank gegenüber, der voll ist mit Kinderzeichnungen. Zu beiden Seiten geht das Chaos an Stichmännchen und Regenbögen weiter. Nicole muss ja wirklich viel Zeit zum Malen haben. Aron folgt meinem Blick und lächelt seltsamerweise aufmunternd. „Schau dir die Zeichnungen mal genau an“, weist er mich an und ich lasse meinen Blick erneut über die Ansammlung schweifen. Etwas ist seltsam, ja. Auf ein paar der Bilder ist eine dreiköpfige und auf anderen eine fünfköpfige Familie zu sehen. Verblüfft blicke ich zu Phil und Pat, die ebenfalls lächeln. „Das sind unsere Zeichnungen?“ Die Antwort erübrigt sich, jetzt erkenne ich sie auch.
 

Zum Glück wird der peinliche Moment, in dem mir Tränen in die Augen treten, von einem lachenden Raily beendet, der unbedingt wissen will, welche Bilder von mir sind. Ich zeige ihm die Bilder recht bereitwillig, da ich beim Kennenlernen mit seinen Eltern noch viel, viel peinlichere Sachen von ihm gesehen habe. Aber selbst mit Kriegsbemalung aus seinen eigenen Exkrementen im Gesicht ist er unheimlich süß gewesen. Ich hingegen hatte früher auf Fotos immer einen bekifften Blick drauf, der alles andere als süß war. Es hat mich viele Stunden vorm Spiegel gekostet ihn los zu werden. Ich hoffe einfach mal, hier stehen nirgends solche Bilder herum.
 

Währenddessen sucht Aron nach irgendetwas. „Hat Nicole die Karten mal wieder entwendet?“, fragt Phil nach einiger Zeit mitleidig und steht auf. „Ich seh mich dann mal in ihrem Zimmer um. Suchst du im Wohnzimmer?“ Der letzte Satz richtet sich an Pat, der sofort los zieht, gefolgt von einem gemurmelten Danke Arons, der den Inhalt des Kühlschranks auf den Kopf stellt. Ich lehne mich an Raily und schweige. Mir wird schon wieder ganz elendig. Andauernd wechseln sich Vertrautes und Ungewohntes ab und hinterlassen ein stechendes Gefühl in meiner Brust. Raily kann es nur geringfügig besser machen, indem er mir liebevoll über die Haare streicht. Aber seine Nähe gibt mir Kraft und deshalb lass ich es mir nicht nehmen ihn trotz Arons Anwesenheit innig zu küssen.
 

Ein Räuspern unterbricht uns. „Hab die Karten gefunden“, kommt es von Pat, der sich mit Phil im Schlepptau wieder an den Tisch setzt. Aron nimmt ihm die Karten mit einem dankbaren Lächeln ab und beginnt zu mischen. „Ich sollte sie vielleicht mal im Schlafzimmer verstecken. Also, was wollen wir spielen?“ Phil und Pats ironischem Schmunzeln nach, wollte er die Karten schon öfters woanders hin tun. Bei der letzten Frage jedoch einigen wir uns schnell auf Mau Mau. Die Regeln sind leicht zu verstehen für Raily und meine Erinnerungen an unzählige Runden mit den anderen drein kommen schnell zurück. Wie alt waren wir, als wir das letzte Mal in so einträchtiger Runde gemeinsam gespielt haben? Jedenfalls hat damals sicher noch keiner von uns ans Heiraten gedacht.
 

Innerhalb weniger Minuten werde ich von den anderen fertig gemacht. Zu meiner Schande ist sogar Raily besser als ich, der das Spiel noch nie gespielt hat. Aron und die anderen wirken darüber kein bisschen überrascht und so langsam kommt auch die Erinnerung daran zurück, wieso es sie nicht überrascht und wieso wir solange nicht mehr zusammen gespielt haben, unabhängig davon, dass ich sieben Jahre lang in den USA gewesen bin. Natürlich hat Raily daran einen Riesenspaß und zockt mich gnadenlos ab. Trotzdem macht es Spaß und ein Teil von mir wünscht sich die Unbeschwertheit des Spiels würde nie mehr enden.
 

Nach drei weiteren Runden beendet das Geräusch eines Autos in der Auffahrt unser Spiel. Ich bin nicht der einzige, der verwirrt zu Aron blickt, der aber genauso ratlos aussieht. „Anne wollte mit den anderen bei ihrer besten Freundin übernachten. Ihr wisst schon, die mit der riesigen Villa.“ Oh natürlich erinnere ich mich an die. Allzu häufig haben wir uns da drinnen verlaufen und verstecken gespielt. Aber meine wehmütige Sehnsucht nach damals wird schnell von einer bekannten Stimme verdrängt. Jemand nestelt mit seinen Schlüssel an der Eingangstür zurück und redet dabei auf ein weinendes Kind ein. Aron steht besorgt auf und eilt seiner Familie entgegen.
 

Plötzlich ruhen drei angespannte Blicke auf mir. Ich erwidere keinen dieser Blicke, sondern lausche auf die Stimme meiner Mutter. „Es ist alles in Ordnung. Sie hat sich nur die linke Hand verstaucht, als sie beim Spielen die Treppe hinunter gerannt und gestolpert ist. Kannst du sie ins Bett bringen, ja? Dann ruf ich die anderen an und sag Bescheid, dass alles in soweit gut ist und sich morgen nichts ändert.“ Die Frau, die da redet, klingt exakt wie meine Mutter, nur der zärtliche Unterton ist anders. Und Arons Antwort ist nicht weniger von Liebe geprägt. Man hört noch leise, wie er auf das Kind einredet und sie hoch hebt. Dann entschwindet er nach oben und andere, leichtere Schritte nähern sich der Küche.
 

Als sich die Küchentür öffnet, stehen Pat und Phil auf, gehen zu unserer Mutter und umarmen sie. Sie ist kaum älter geworden, vielleicht sogar jünger. Aus ihren Gesichtszügen spricht das gleiche, leise Glück wie aus ihrer Stimme. Und sie freut sich ehrlich ihre beiden, erwachsenen Söhne zu sehen. Ebenso sieht man Phil und Pat die Liebe zu ihrer Mutter an. Sie sind wirklich eine heile Familie, trotz allem, was war, bevor ich nach Amerika gegangen bin. Könnte ich jetzt auch so unbeschwert mit allen umgehen, wenn ich nicht geflüchtet wäre? Aber dadurch, dass ich eben getan habe, was ich getan habe, gehöre ich erst recht nicht mehr dazu. Der Gedanke ist ein glühendes Eisen in meinen Herzen.
 

Innerhalb weniger Sekunden fasse ich den Entschluss erneut zu flüchten. Obwohl man es wohl kaum einen Entschluss nennen kann, ich bin einfach zu feige und zu kraftlos mich jetzt meiner Mutter zu stellen. Raily wehrt sich nicht, als ich ihn an der Hand packe und mit mir zum Hinterausgang der Küche ziehe. Er sieht mich lediglich mitleidig an. Bevor Mutter verstehen kann, wer da in ihrer Küche sitzt, sind wir draußen und durch den Garten auf die Straße gerannt. Es ist dunkel und kalt und ich habe nur noch eine unzureichende Ahnung, in welcher Richtung unser Hotel liegt. Doch die Hauptsache ist, dass ich weg komme von diesem Haus und von meiner Familie, die nicht mehr so ganz meine Familie ist.

Erkenntnisse

Ziemlich schnell kommen wir wieder am Hotel an, ich hatte nicht stehen bleiben können und Raily besaß genug Ausdauer, um mir die kurze Strecke hinterher zu laufen. Trotzdem sind wir nun verschwitzt und außer Atem. Unter dem verblüfften Blick des Mitarbeiters an der Rezeption schleichen wir zu unserem Zimmer hoch und lassen uns dort erst mal erledigt aufs Bett fallen. Es quietscht leise ob unseres Gewichtes, dann herrscht abgesehen von unserem Atem Stille. Eine vorwurfsvolle Stille, in der ich ihm nicht in die Augen sehen kann.. Raily mag sich zwar größtenteils Sorgen um mich machen, aber auch er wird sich fragen, wie ich die Hochzeit morgen überstehen will, wenn ich schlussendlich immer weglaufe.
 

Dabei dachte ich, ich könnte das. Meinen Vater umarmen, meinen ehemals besten Freund gratulieren, meine Brüder anlächeln und meiner Mutter alles Gute für die Zukunft wünschen. Es wirkt so leicht, so zu tun, als hätte ich nicht sieben Jahre in ihrem Leben verpasst und sie in meinem. Doch es ist nicht die Wahrheit und Lügen konnte ich noch nie sonderlich gut akzeptieren. Damit kämen wir wieder zu dem Problem, für das ich keine Lösung finde. Soll ich stillschweigend alles hinnehmen, wie es im Moment ist oder meinen Eltern, Aron und meinen Brüdern gestehen, was ich damals über sie wusste und was immer noch Teil ihres Lebens ist? Aber wenn ich das tue, macht es die Situation besser oder schlimmer?
 

„Ich gehe duschen.“ Raily neben mir erhebt sich ächzend. Er scheint drauf und dran zu sein noch etwas hinzuzufügen, lässt es dann jedoch. Stattdessen greift er nach meiner Hand, zieht mich ebenfalls hoch und im gleichen Atemzug an sich. Ich lehne mich bereitwillig an ihn und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Er riecht so gut, so vertraut. Nichts an ihm ist mir fremd. Mehr als jemand sonst ist er meine Familie und ich weiß, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben. Zumindest das hat mich meine Vergangenheit gelehrt; ich muss schätzen, was ich habe. „Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“
 

Ein liebevolles Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht und ich kann spüren, wie seine Hände unter meinem Pullover verschwinden und mir über den Rücken streichen. Die Berührung löst eine angenehme Gänsehaut aus. „Nein, hast du nicht, aber ich liebe dich trotzdem ebenfalls. Und weißt du was? Im Badezimmer hier gibt es nicht nur eine Dusche, sondern auch so eine sehr große Badewanne.“ Huch? Macht er mir da etwa gerade den Vorschlag... Meine Laune bessert sich schlagartig. Wie auch nicht? Zu Hause haben wir keine Badewanne und da man bei Reisen ja gerne neue Sachen ausprobiert, ist das perfekt. Abgesehen davon, dass es erneut eine super Verdrängungsstrategie ist.
 

~~~
 

Einige Küsse und zig auf dem Boden verteilte Kleidungsstücke später sitzen wir gemeinsam in der Badewanne. Wobei eher ich derjenige bin, der sitzt. Raily kniet vor mir, seine Lippen berühren meine Brust. Ich beobachte ihn mit glasigen Augen dabei, wie er akribisch genau zwei dutzend Küsse auf meiner Haut verteilt. Entspannt lächelnd hebe ich eine Hand und streiche ihm durch die feuchten Haare. Als seine Zähne anfangen an meinen Brustwarzen zu knabbern, rutscht mir ein kleines, verräterisches Stöhnen heraus. Sofort springt er darauf an und leckt mit seiner Zunge über die empfindlichen Nippel. Meine Hand rutscht von seinen Haaren herunter und bleibt in seinem Nacken liegen. Ein wenig fahrig kraule ich ihn.
 

Er lässt von meinen Brustwarzen ab und lehnt sich der Berührung entgegen. Wie schön er ist, wenn er die Augen schließt und man ihm ansieht, dass er kurz vorm Schnurren ist. Ich beuge mich zu ihm hin und küsse ihn zärtlich. Seine Lippen sind Magneten und ich bin absolut hilflos gegen ihre Anziehungskraft. Das Gute ist, ihm ergeht es nicht besser. Wir versinken ineinander und als wir keine Luft mehr bekommen, brechen wir in ein vollkommen peinliches und verliebtes Kichern aus. Wir lachen, weil dieser Moment wundervoll ist und zumindest für wenige Sekunden alles Vorausgegangene und alles Kommende unwichtig und auf seine eigene Art und Weise lustig erscheint. Recht bald klingt der Heiterkeitsausbruch jedoch wieder ab und macht einer warmen Stille Platz. Ich sehe ihm in die Augen und er sieht mir in die Augen. Meine Lippen bewegen sich ohne mein Zutun. „Willst du mich heiraten?“
 

Einen Moment lang rührt sich keiner von uns beiden. Dann zuckt sein Körper ganz leicht vor mir zurück, bis ich nur noch von seinen Händen berührt werde, die auf meinen Knien liegen. Ich nehme zwar seine Bewegungen wahr, aber was genau gerade geschehen ist, dringt nicht wirklich in mein Bewusstsein. Was habe ich getan? Raily wird nun ernsthaft rot im Gesicht, all sein Blut schießt ihm in die Wangen und lässt ihn aussehen, als hätte er einen schlimmen Sonnenbrand. Ich hebe vorsichtig die Hand und lege sie ihm auf die Wange.
 

Die Geste reißt ihn aus seiner Erstarrung und zu meinen Leidwesen weicht er bis ans gegenüberliegende Ende der Wanne zurück. „Mei... meinst d... du das... ernst?“ Fragt er mich stotternd und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich keine Ahnung. Ich hatte mal wieder eine Kurzschlussreaktion. Aber da meine Entscheidungen neuerdings nur noch auf Kurzschlussreaktionen basieren, bleibe ich erstaunlich ruhig und tue natürlich gleich die nächste Dummheit. „Ja, ich meine das ernst. Raily, willst du mich heiraten?“
 

Jetzt wird er blass, wirklich blass. Sein Körper versinkt im Schaum und passt sich farblich an diesen an. Einzig seine blonden Haare und seine großen, aschgrauen Augen stechen daraus hervor. Der Anblick hätte etwas komisches, wenn ich ihm nicht gerade unter völliger Abstinenz geistiger Fähigkeiten einen Heiratsantrag gemacht hätte. Dennoch hätte ich nicht so eine Reaktion erwartet. Wir lieben uns, wir sind schon lange zusammen und teilen eine Wohnung. Für ein schwules Paar ist eine ziemlich gute Resonanz. Wieso also ist er derart entsetzt? Er hat nie gesagt, dass er nicht heiraten will. Es war zugegebenermaßen auch nie Thema, denn verloben können wir uns zwar, aber dort wo wir wohnen, wird eine Ehe zwischen Homosexuellen nicht anerkannt.
 

Ich schließe die Augen und blende Railys Anblick aus. Oh Gott, was habe ich da nur wieder getan? Gleich wird er mir sagen, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe und er mich nie, nie und niemals heiraten will. In meinen Schreckensversionen sehe ich uns im Flugzeug nebeneinander sitzend, schweigend und einander nicht mehr ansehen könnend. Und wenn wir dann zu Hause ankommen, packe ich mein Zeug und gehe in ein Hotel. Raily wird mir nachsehen, ohne mich aufzuhalten. Das ist zu viel, das ist absolut zu viel. Die vorher so angenehme Wassertemperatur sinkt ins Bodenlose, mir wird eiskalt.
 

„Peer...“ Seine Stimme ist ganz nah, aber ich kann die Augen nicht öffnen. „Peer, es tut mir leid. Ich... ich will dich nicht heiraten, nicht jetzt. In 10 oder 15 Jahren vielleicht und wenn du nicht gerade halb verrückt bist vor Schuldgefühlen, Verwirrung und Schmerz. Du kannst nicht vor deiner Familie fort laufen, indem du dir eine neue Familie suchst. Natürlich bin ich deine Familie, aber ich kann nicht deine Eltern und deine Geschwister ersetzen.“ Ich glaube, Raily ist den Tränen nah. Für mich tut er alles. Für mich kommt er mit nach Deutschland und hält meine Hand, als ich meiner Familie gegenüber trete. Er ist immer da und immer verständnisvoll. Aber dass es ihm auch Unmengen an Nerven kostet, daran habe ich noch gar nicht gedacht.
 

„Es tut mir leid“, meine ich tonlos und bewege mich auf ihn zu. Seine Stimme mochte zwar zittern, aber er weint nicht. Verständnisvoll sieht er mich an und zieht mich augenblicklich in seine Arme, als ich bei ihm bin. Ob er mich haut, wenn ich sagen würde, dass ich ihn gar nicht verdient habe? Doch wenn ich das sage, habe ich ihn vermutlich wirklich nicht verdient. Ich sollte aufhören in Selbstmitleid zu versinken und mich freuen, ihn zu haben. Wir brauchen nicht zu heiraten, um zu wissen, wie viel uns unsere Verbindung bedeutet. Und ich brauche auch eigentlich nicht vor meiner Familie zu flüchten.
 

„Was meinst du soll ich tun?“ Bisher hielt ich es für das beste, meine Entscheidungen nur mit mir alleine zu fällen und war froh, dass er das akzeptiert hat. Aber womöglich liegt genau hier mein Problem. Ich erzähle ihm alles und lasse gleichzeitig nicht zu, dass er mir hilft. Dabei brauche ich wirklich mal Hilfe, immer nur alles durch Kurzschlussreaktionen zu entscheiden, ist nicht das Wahre und bringt mich meiner Familie nicht näher. Es muss schrecklich für meine Mutter sein, wenn ich andauernd vor ihr davon laufe und nicht mal den Mut habe mich zu verabschieden. Sie ist immer noch meine Mutter und meine Brüder sind weiterhin meine Brüder, auch wenn sie miteinander schlafen.
 

Raily scheint sofort zu verstehen was ich meine und drückt mich ein wenig von sich weg, um mir in die Augen sehen zu können. Beschämt erwidere ich seinen Blick und fühle mich dabei wie ein kleines Kind, das versehentlich eine Vase kaputt hat. „Du solltest morgen früh jede Chance nutzen, die du kriegen kannst, um mit einen von ihnen alleine zu reden. Vielleicht nicht gerade mit Aron und deiner Mutter kurz vor ihrer Trauung, aber danach musst du mit ihnen reden. Es macht dich nicht glücklicher, wenn du nicht ehrlich bist und sie ebenfalls nicht. Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast. Von deinem 16. Geburtstag, deiner Selbstfindungszeit und deinen Beobachtungen. Du kannst ihnen auch von Sven erzählen und wie scheiße er dich behandelt hat und dass du deswegen und wegen allen anderen eine deiner berühmten Kurzschlussreaktion hattest, bei der du ohne weitere Absprachen auf die Schule in Amerika gegangen bist.“
 

Wie Raily das sagt, klingt es echt simple. Ich kaue nachdenklich auf meiner Unterlippe herum, während wir aus der Badewanne steigen und uns abtrocknen. Raily ist schneller fertig als ich und zieht sich gleich wieder an. Erst da fällt mir ein, was wir eigentlich geplant hatten und ich seufze bedauernd. Wieso musste ich auch wieder so einen Schwachsinn verzapfen? Mürrisch tapse ich zum Schrank und krame nach passenden Schlafklamotten. Dabei finde ich sogar meinen Rasierer wieder, den ich Raily triumphierend hinhalte. Jetzt ist er derjenige, der seufzt. „Schade, der Dreitagebart steht dir. Lass ihn doch noch ein bisschen dran... für mich?“ Er lächelt lieb, obwohl er das gerade gar nicht bräuchte. Nachdem was in der Wanne passiert ist, würde ich mir für ihn die Haare sogar bis zum Po wachsen lassen. Was er schon mal von mir wollte, aber das sollte ich jetzt besser nicht erwähnen.
 

Neben dem Umziehen denke ich jedoch weiterhin an seine Worte. Ich soll morgen früh in dem ganzen Stress einen von ihnen abpassen, in die Besenkammer zerren und über alles reden?Hoffentlich werden Pat und Peer nicht eifersüchtig, wenn ich das mit dem jeweils anderen mache. Okay, vielleicht kann ich sie doch nicht mehr so einfach als meine Brüder sehen wie früher. Womöglich sollte ich mit den beiden gleichzeitig reden und ihnen sagen, dass ich es akzeptiere. Und dann? Ich weiß es nicht, aber Raily hat recht, mit ihnen reden muss ich.
 

Inzwischen liegt Raily im Bett und sieht mir aufmerksam beim Umziehen zu. Sobald ich fertig bin, krabble ich zu ihm unter die Decke und kuschel mich an. Er riecht nach sich selbst und dem Badeschaum. Ich hab nicht mal drauf geguckt, welcher Geruch es war, aber an ihm riecht es einfach toll. Anscheinend habe ich mich gerade noch mal ganz neu in ihn verliebt, denn mein Herz klopft durch seine Nähe ganz aufgeregt und ich spüre Schmetterlinge in meinen Bauch herumflattern. Trotzdem bin ich viel zu erschöpft, um viel mehr zu tun, als mich an ihn zu schmiegen und einzuschlafen.

Morgenstunden

Wir sind beide sehr früh wach am nächsten Tag. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich überhaupt geschlafen oder geträumt habe. Als ich aufwache, fühle ich mich genauso wie am Abend. Verwirrt und deprimiert auf der einen Seite, ein wenig getröstet durch Raily auf der anderen Seite. Er liegt ruhig atmend neben mir im Bett und hat die Augen geschlossen, trotzdem weiß ich, dass er bereits wach ist. Ich kenne seine Atmung wenn er wach ist oder schläft, wenn er gerannt oder wenn er ein paar Stunden durch die Stadt geschlendert ist. Dennoch stellt er sich gerade schlafend. Damit ich mit meinen Gedanken alleine bin? Selbst wenn ich noch mehr Zeit darauf verschwenden würde herauszufinden, wie ich mich nachher verhalten soll, käme ich zu keiner Lösung.
 

„Na komm, lass uns frühstücken. Ich weiß, dass du wach bist.“ Raily öffnet blinzelnd die Augen, in denen deutlich das Wort „Spielverderber“ steht. Ich beuge mich zu ihm hin und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen. Das bringt ihm automatisch und wahrscheinlich gegen seinen Willen zum Lächeln. Er packt mich am Handgelenk und will mich näher an sich ziehen, den Kuss vertiefen, aber ich mache mich von ihm los und steige aus dem Bett. Ich will frühstücken und dann los. Die Ungeduld beginnt langsam in meinem Körper zu kribbeln und sich auszubreiten. Und zu früh kommen, können wir vermutlich gar nicht, nicht wenn es sich um Hochzeitsvorbereitungen handelt.
 

„Wollen wir den Zimmerservice rufen, runter in den Speisesaal oder in eine Bäckerei gehen?“ Auf dem Weg zur Küche war mir eingefallen, dass es keine Küche gibt. Von Raily, der mir nachgesehen hat, kommt ein ersticktes Lachen. Kurz darauf bequemt er sich ebenfalls aus dem Bett und wir stehen gemeinsam vorm Kleiderschrank. „Kommt ein bisschen seltsam, wenn wir jetzt schon Anzüge anziehen, oder?“ Meint er und streicht über die in Folie eingepackten Anzüge, die er als einzige ganz ordentlich in den Schrank gehängt hat. Kein Wunder, sie waren ziemlich teuer. Dafür wiederum sehen sie richtig gut aus, sowohl mein schlichter, schwarzer mit dem weißen Hemd, als auch sein auffällig dunkelroter mit dem lila Hemd. Bei der Anprobe hatte ich kaum meine Finger von ihm lassen können, zu Freude der Verkäuferin und zum Leidwesen des Verkäufers, der augenscheinlich auf sie stand. Besonders leidend hatte er ausgesehen, als wir uns gegenseitig die einheitlich schwarzen Krawatten umgebunden und seine Angebetete gequietscht hatte.
 

Raily, der an das gleiche denkt wie ich, legt mir einen Arm um die Schultern und drückt mir einen Kuss auf die Haare. „Also ich bin für Frühstücken in einer typischen, deutschen Bäckerei. Und ohne Anzüge. Wir können uns doch sicher irgendwo in der Kirche umziehen, oder?“ Ich nicke zustimmend und einige Zeit später haben wir unsere Sachen eingepackt, sind umgezogen und auf dem Weg zu der einzigen Bäckerei der Stadt, an die ich mich von früher erinnere, die nebenbei ein Cafe hatte und die hoffentlich noch existiert. Wir haben Glück. Oder Unglück, je nachdem wie man es sehen will, denn wir sind nicht die einzigen, die heute morgen frühstücken gehen. Ich höre Katleen, bevor ich sie sehe. Und wenige Sekunden später einen Sven, der sie weinerlich darum bittet leiser zu sein.
 

Raily erkennt die Stimme nicht und ist deshalb etwas verwirrt, als ich ihn zu den beiden hin ziehe. Aber kaum sind wir angekommen, scheint er sich an Sven zu erinnern und schenkt diesem ein mitleidendes Lächeln. Wie viel auch immer Sven gestern noch getrunken hat, es war eindeutig zu viel. Katleen hingegen wirkt ziemlich munter... und wütend. Sie sieht mich stumm an und sieht mich an und sieht mich an. Kaa die Schlange aus dem Dschungelbuch ist nichts gegen sie. Nur nebenbei bemerke ich, wie Sven aufsteht, Raily am Ärmel zupft und mit ihm weggeht. Oh verdammt, ist das jetzt bereits meine erste Aussprache? Katleen bedeutet mir mich zu setzen und ich folge ihrer Anweisung immer noch ganz hypnotisiert.
 

Nun frage ich mich allerdings, wo der Unterschied dabei ist sich im Stehen oder im Sitzen anzustarren. Katleen nippt ganz ruhig an ihrem Kaffee und würden ihre Augen nicht so wütend blitzen, könnte man wirklich meinen, wir würden einfach miteinander frühstücken. Um wenigstens irgendetwas zu tun zu haben, greife ich schließlich nach der Serviette. Fast gleichzeitig schnellt jedoch Katleens Hand vor und nimmt sie mir wieder weg. Wenn möglich, sieht sie mich jetzt noch böser an. „Ich warte darauf, dass du dich erklärst, du Arsch.“ Teilt sie mir zischend mit und zerreißt dabei wahrscheinlich unterbewusst die Serviette. Arme Serviette, aber besser als wenn ich es wäre. Allerdings weiß ich nicht so wirklich, was ich sagen soll und hebe die Schultern. Die Serviette wird in noch kleinere Teile zerrissen.
 

„War es wegen Dennis? Wegen Peer und deiner Mutter? Aber das ist doch erst einem Monat nach deinem Verschwinden heraus gekommen. Und nur weil Dennis dich betrogen hat, bist du auch nicht verschwunden, dafür hast du ihn zu wenig geliebt und das weißt du ganz genau. Also wieso zur Hölle hast du dich 7 Jahre lang nicht bei mir gemeldet?“ Sicher werden meine Schultern heute noch steif, weil ich sie so oft anheben muss. „Ehrlich, es tut mir leid und es hatte nichts mit dir zu tun. Es war... eine Mischung aus allen möglichen. Kat...“ Serviettenschnipsel fliegen auf mich zu, ohne mich zu treffen. „Nenn mich nicht so, wenn du dich nicht mal anständig entschuldigen kannst!“
 

Neben mir lacht Sven und schüttelt den Kopf. Hab gar nicht bemerkt, dass die beiden zurück gekommen sind. Raily sieht mich aufmerksam an, weshalb ich ihm beruhigend zulächle. Ehrlich gesagt, ist mir ebenfalls nach lachen zumute. Katleen war schon immer eine Dramaqueen und das hat sich kein bisschen geändert. Fehlt nur noch, dass sie wie früher mit hoch erhobenen Kopf aufsteht, ihre Haare nach hinten wirft und nach draußen rauscht. Jetzt unterlässt sie es jedoch, vielleicht ist ja wirklich etwas erwachsener geworden. Was nicht heißt, sie würde Sven nun freundlicher ansehen als mich. „Und du bist kein bisschen sauer, hm?“
 

Er sieht weiterhin gelassen aus und setzt sich zu uns an den Tisch. Raily folgt ihm und legt eine Hand auf meinen Arm, während er mindestens genauso neugierig wie ich das Blickduell zwischen Sven und Katleen verfolgt. So langsam kommt mir der Gedanke, dass die beiden nicht zufällig miteinander frühstücken. „Nein, ich bin nicht wütend, war ich noch nie. Ich war verwirrt, weil unsere Clique so plötzlich auseinander gebrochen ist. Aber vermutlich wäre sie das früher oder später eh. Wir sollten lieber froh, dass alle noch leben, anstatt uns an sieben Jahre alten Geschehnissen aufzuhängen. Denk dran, Aron heiratet heute. Das ist ein Grund zur Freude.“ Und dann beugt er sich über den Tisch zu ihr hin und küsst sie. Noch zwei meiner alten Freunde, die erwachsen geworden sind.
 

Als die Kellnerin an unseren Tisch kommt, bestellen Raily und ich uns ebenfalls etwas. Seltsam schweigsam frühstücken wir danach mit den anderen beiden, es ist aber keine unangenehme Stille. Katleen hat sich beruhigt, Sven sieht nicht mehr allzu sehr nach einer Schnapsleiche aus und Raily genießt das vollkommen deutsche Frühstück und ich nicht minder. Gelegentlich stellt einer von uns scheue Fragen über das Leben der anderen, bis Katleen mich am Ende ganz unverblümt auffordert ihnen unsere Telefonnummer, meine Handynummer und unsere Adresse zu geben und mir droht, sollte ich noch nochmal wortlos verschwinden, mich zu verfolgen und hinzurichten. Obwohl ich mich insgeheim frage, ob ich Suizidgefährdet bin, wird mir ganz warm bei diesen Worten.
 

Schließlich fragt Sven uns, wie lange wir in Deutschland bleiben werden und lädt uns für den morgigen Abend zu sich und Katleen nach Hause ein. Es soll ein richtig netter Filmabend werden. Raily ist hin und weg und will mir nicht glauben, dass viele Filme hier eine fürchterliche Synchronisation haben. Den ganzen Weg zur Kirche reden wir nur noch über Filme. Unsere Stimmung ist derart gut, dass Katleen mich nicht mal haut, als ich vom vergangenen Abend und dem Anastasia-Moment erzähle. Doch kaum stehen wir vor der Kirche, wird mir wieder ganz flau im Magen. Sven fragt mich, ob er mir zuerst die Toiletten zeigen soll, damit ich mich übergeben kann und ich hätte fast zugestimmt, um einen kleinen Aufschub zu bekommen. Nur leider gibt es keinen und Raily hält meine Hand zu fest zum Weglaufen.
 

Wir betreten die Kirche durch einen Nebeneingang, von dem ich nicht mal etwas wusste. Was auch nicht verwunderlich ist, ich war hier lediglich mal wegen der Schule. Ich wurde nie gläubig erzogen und Aron ebenfalls nicht, weshalb ist es mir ein Rätsel, wieso er und Mutter erst kirchlich und dann standesamtlich heiraten. Möglicherweise will sie etwas nachholen und er es für sie wundervoll machen. Ich hab es gestern in ihren Stimmen gehört. Sie lieben sich. Und deshalb kann ich verstehen, dass alles perfekt sein soll. Das wünsche ich mir nämlich auch für Raily und mich, wenn er meinen Heiratsantrag annimmt in zehn Jahren... oder fünfzehn. Oder überhaupt mal. Ein wenig bitter ist seine Absage eben doch, auch wenn ich gestern nicht ernst zu nehmen war.
 

Aber außer dieser Sache, bin ich gerade mal wieder unendlich froh ihn an meiner Seite zu haben. Als Aron auf uns zu kommt, um uns zu begrüßen, gibt er mir einen Stoß in die Seite, um mich dazu zu bringen, Aron wenigstens meine Hand zu geben. Ich hätte sonst nur stumm dagestanden und ihn angesehen. Mir ist es unglaublich peinlich, was gestern Nacht passiert ist und Arons besorgtem Blick nach, erinnert er sich durchaus daran. Dennoch schütteln wir einander nur kurz die Hände und verlieren kein Wort darüber. Abgesehen von Raily sind die anderen beiden nicht so zurückhaltend und umarmen Aron, knuffen ihn und drücken ihm die Daumen, dass nachher alles gut geht.
 

Danach zerstreut sich unsere Gruppe. Katleen eilt zur Braut, während Aron Raily und mir die Umzugsmöglichkeiten für Männer zeigt. Sven ist so locker drauf wie immer und ignoriert einfach mal die bevorzugte Kleidung, er trägt auch weiterhin nur Jeans und Hemd. Allerdings hat ihm Katleen eine Krawatte aufgezwungen, durch die er mehr dem je einem Hühnchen am Galgen ähnelt. Wie er und Katleen wohl zusammen gekommen sind? Früher hat absolut keine Anziehung zwischen ihnen bestanden. Das Gegenteil war der Fall. Katleen ging mit Jungs, die ihrem Aussehen entsprachen und Sven wurde von Mädchen gemieden wie die Pest. Ich würde mal sagen, die jetzige Situation ist für beide ein riesiger Fortschritt.
 

Ich bin schon fast versucht Aron nach den beiden zu fragen, als wir mit ihm alleine in der Umkleide sind, aber er ist schon wieder weg, bevor ich überhaupt danke sagen kann. „Ich hab gestern wieder einiges kaputt gemacht, nicht wahr? Ja, hab ich.“ Praktischerweise gebe ich mir die Antwort gleich selbst und enthebe Raily seiner Pflicht mir eine mentale Ohrfeige zu verpassen. Zur Belohnung erhalte ich ein Lächeln und einen Kuss. So stehen wir kurze Zeit einfach nur da und versinken ineinander. Dann ziehen wir uns um. Ich gebe zu, dass ich versuche das ganze ein bisschen hinauszuzögern, doch kaum hat Raily meine Strategie durchschaut, hilft er mir beim Umziehen und wirkt dabei so geduldig wie eine Kindergärtnerin. Das ist irgendwie beschämend und ich bin froh, als wir fertig sind und die Umkleide verlassen.
 

Doch jetzt ist es noch schlimmer. Es laufen immer wieder Leute an uns vorbei, bekannte wie unbekannte Gesichter, aber jeder hat ein anderes Ziel und ich weiß nicht, wo wir hin sollen. Ich hatte ja gehofft meinen Vater zu sehen, mit geringem Erfolg. Mir fällt so langsam ein, dass er am Abend gesagt hatte, er hätte um diese Zeit noch einen Kunden. Ich bin verloren in der großen, großen Kirche und sehe mich dementsprechend hilflos um. Nicht mal Pat und Phil sind zu sehen, damit ich sie in die Besenkammer zerren und mit ihnen reden kann. „Raily? Was meinst du, sollen wir dahinten... Raily?“ Und weg ist er. Ich könnte ja schwören, dass er gerade noch neben mir gestanden hatte, aber da ist niemand mehr. Eine hektische Drehung um mich selbst erbringt auch nichts. Raily ist verschwunden.
 

Ich versuche ernstlich logisch an die Sache heranzugehen. Raily ist neugierig. Vielleicht hat er etwas gesehen, was er sich unbedingt schnell angucken musste. Oder vielleicht hat er den Altar betrachtet und dabei Panik bekommen, ich würde ihn aus einer Kurzschlussreaktion heraus zum Heiraten zwingen. Auch wenn wir in einer Kirche gar nicht heiraten dürfen. Oder er wurde entführt. Er sieht viel zu gut aus für diese Welt, das hab ich schon immer gewusst und heute sind sicher viele alte Jungfern auf der Hochzeit, die verzweifelt genug sind ihn zu entführen, während ich daneben stehe. Natürlich, so muss es gewesen sein. Verdammt, wie soll ich nur jemals herausfinden, wer ihn entführt hat?!
 

Aber bevor ich kopflos durch die ganze Kirche laufen kann, legt sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. „Was machst du denn da? Ich hatte im Umkleideraum meine Uhr liegen gelassen. Inzwischen eine Idee, was wir machen wollen?“ Raily umarmt mich und ich entspanne mich wieder. Ganz schlichte Erklärung, aber eine Entführung wäre auch möglich gewesen. „Hm, ich hatte eine Idee, aber ich weiß echt nicht mehr, welche. Rumstehen und kuscheln klingt allerdings auch nicht schlecht.“ Ich spüre seinen armen Atem an meinen Ohr und lehne mich näher an ihn. Irgendwann wird uns schon einer der Hauptakteure des heutiges Spektakels über den Weg laufen und bis dahin erfreue ich mich an der Sicherheit, die mir Railys Arme vermitteln.

Hochzeitsgeflüster

Kurz vorm Beginn der Hochzeit haben wir immer noch niemanden gesehen. Ich will ja nichts behaupten, aber allmählich hab ich das Gefühl, als würden sich alle vor mir verstecken. Gelegentlich sehe ich bekannte Gesichter, doch niemanden, mit dem ich reden will, dabei sind wir bereits seit Stunden hier. Langsam wird es hektischer, die letzten Dekorationen werden zurecht gerückt, die meisten Gäste kommen an und suchen sich Plätze. Raily und ich sitzen so, dass wir den Eingang beobachten können, aber weder Vater noch meine Brüder sind bisher erschienen. Letztere sind vermutlich schon da, haben es aber nicht für nötig gehalten, mich willkommen zu heißen. Ich kann es ihnen nicht verdenken und wissen, dass ich mich entschuldigen will, können sie auch nicht. Trotzdem ist es deprimierend. Von den rotierenden Gedanken kriege ich Kopfschmerzen und die Hochzeit hat noch nicht mal angefangen.
 

Ich lasse den Kopf in meine Hände sinken und massiere mir die Schläfen. Es pocht immer stärker und selbst Railys beruhigendes Rücken-Streicheln hilft wenig dagegen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen habe, die Augen geschlossen und meine Finger gegen die Schläfen gedrückt, aber irgendwann spüre ich, wie Raily an meinem Ärmel zupft und höre kurz darauf ein Räuspern neben mir. Ein schwaches Lächeln erscheint auf meinen Lippen und ich blicke zu der Gestalt hoch, die mich als Kind oftmals ins Bett getragen hat, wenn es mir nicht gut ging. Jetzt kann er auch nicht mehr machen als Raily und mir über den Rücken streichen. Und er kann mich von den Gedanken ablenken, mir vielleicht sogar Antworten geben.
 

„Hab ich es gestern noch schlimmer gemacht?“ Ich weiß, er wird mich verstehen. Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob ich seine Rolle in diesem Drama kenne. In der Familie ist er der Einzige, bei dem ich nie ein schmutziges Geheimnis entdeckt habe. Die erloschene Liebe zwischen Mutter und ihm war nie ein Geheimnis. Inzwischen halte ich ihn eher für eine Art Heiligen. Wie sonst lässt sich sein gutes Verhältnis zu Mutter und Aron sowie die Vergebung meiner Flucht erklären? Auch meine neueste Kurzschlussreaktion scheint er mir nicht nachzutragen. Er sieht mich gelassen an und schüttelt den Kopf. „Ich hab nur mal kurz mit Aron telefoniert. Er hat vom restlichen Abend erzählt, dann nach dir gefragt und wie wahrscheinlich es ist, dass du wirklich bei der Hochzeit aufkreuzt. Ich hab mich optimistisch gegeben, was ihn zu erleichtern schien. Weißt du, er tut so erwachsen, aber tief in seinem Inneren ist er noch der 7-jährige Junge, der fast geheult hätte, weil er die Actionfigur seines besten Freundes kaputt gemacht hat und nicht will, dass dieser auf ihn sauer ist.“
 

Ein wenig hinkt der Vergleich zwischen der kaputten Actionfigur und der Affäre mit der Mutter seines besten Freundes ja schon, aber dennoch lassen meine Kopfschmerzen deutlich nach und ich setze mich aufrecht hin. „Ich hab ihm schon lange verziehen.“ Vater sieht mich nachdenklich an und nickt. „Wieso sagst du mir das? Sag es ihm. Sag es deiner Mutter. Später allerdings. Wollen wir uns nicht langsam mal in die vorderste Reihe setzen oder hast du Angst, dein Freund könnte den Brautstrauß fangen, wenn ihr zu weit vorne sitzt? Keine Sorge, der wird erst... Peer, alles in Ordnung?“
 

Ich bin wohl etwas zu hastig aufgestanden und wer weiß, welche Farbe mein Gesicht gerade hat, jedenfalls sieht Vater mich neugierig und Raily mich besorgt an. Ich ignoriere die Blicke und nicke ihnen meinerseits auffordernd zu, bis wir schlussendlich gemeinsam nach vorne gehen. Jetzt, wo ich mal bewusst nach vorne blicke, fällt mir auf, wie seltsam die Verteilung der Gäste auf den Bänken links und rechts des Ganges ist. Ein kleines Schildchen weist darauf hin, dass es ganz altmodisch eine Seite für die Verwandten der Braut und eine für die des Bräutigams gibt.
 

Nur sitzt auf der Seite der Braut kaum jemand. Da sind meine Brüder, Mutters beste Freundin, von der ich eigentlich dachte, sie sei eine Brautjungfer und zwischen ihnen ein Mädchen, das wohl meine kleine Schwester ist und noch ein paar mir unbekannte Gesichter, aber sonst niemand. Wo sind meine Großeltern und die ganzen anderen Verwandten, die sich sonst nie Familienfeste entgehen lassen, selbst wenn sie auf diesen nichts anderes tun als zu meckern? Auf Arons Seite hingegen sehe ich Unmengen an bekannten Gesichtern. Raily blickt ebenfalls ein wenig stirnrunzelnd auf die Leere, doch Vater würdigt sie keines Blickes. Er setzt sich mit seinem üblichen Lächeln neben Phil, umarmt diesen kurz und beugt sich gleich darauf über ihn zu Pat hin und umarmt ihn ebenfalls. Diese kleine Familienszene hinterlässt ein flaues Gefühl in meinen Magen, denn als Pat und Phil mich bemerken, sehen sie nicht so aus, als würden sie es gutheißen, von mir umarmt zu werden.
 

Egal wie viel Zeit vergangen ist, wenn ich bei diesem Gesichtsausdruck nicht mehr wüsste, dass die beiden sauer auf mich sind, müsste ich mein Gedächtnis verloren haben. Der Blick meiner kleinen Schwester hingegen ist neugierig. Sie reagiert kaum darauf, dass Vater sie zu begrüßen versucht, sondern sieht mich mit großen Augen an. Blitzartig schnellt ihr Blick dann zwischen Phil und mir hin und her und bleibt zuletzt wieder an mir hängen. Ich versuche ihr nett zuzulächeln, bevor ich mich neben Vater auf die Bank fallen lasse. Raily folgt mir und legt einen Arm um meine Schultern. „Am besten versuchst du nicht mehr zu lächeln, das sieht einfach zu gezwungen aus.“ Die Maske fällt von meinem Gesicht und ich entspanne mich merklich. Eigentlich brauche ich auch gar nicht zu lächeln, Railys übliches Strahlen reicht für die ganze Sitzreihe.
 

Fast gleichzeitig brandet um uns herum Applaus auf und der Priester geht mit Bräutigam und Trauzeuge im Schlepptau zum Altar. Mir fällt es wirklich schwer, den irrationalen Stich der Eifersucht zu unterdrücken, der bei diesem Anblick in mein Fleisch fährt. Um es noch schlimmer zu machen, steht Vater auf und klopft mir auf die Schulter. „Ich muss dann mal nach hinten zur Braut, damit sie gleich jemanden hat, der sie ihrem neuen Ehemann zuführen kann.“ Er sieht so heiter aus wie immer und verschwendet keinen Gedanken daran, dass ich plötzlich neben einem Phil sitze, der mich lauernd wie eine Katze ansieht.
 

Vielleicht auch eher wie eine Schlange. Denn sobald ich seinen Blick erwidere, kann ich nicht mehr wegsehen. Ich fühle mich mal wieder an früher erinnert. An die Momente, wo er wirklich sauer auf mich war und mich nicht etwa angeschrien hat, sondern mir halb vernünftig und halb den Tränen nah dargelegt hat, was ich falsch gemacht habe. Diesmal klingt es allerdings wenig sachlich, als er den Blick von mir löst. „Du bist ein Idiot!“
 

Jetzt habe ich auch Pats Aufmerksamkeit, der mich leicht tadelnd ansieht, im Gegensatz zu Phil aber beharrlich weiter schweigt. „Weißt du, wie oft Mutter damals deinetwegen geweint hat? Und gestern Abend wieder. Direkt vor ihrer Hochzeit! Wegen dir! Du bist so ein Idiot.“ Ein Teil von mir weiß, dass mich seine Worte treffen sollten, der andere Teil hat das Gefühl, etwas an diesen Worten sei falsch. Raily ist es, der mich auf die richtige Idee bringt. „Taschentuch?“ Er hat seinen Arm ausgestreckt und hält Phil fürsorglich ein Taschentuch vor die Nase, das dieser sogar nimmt, noch bevor Pat in den Innentaschen seines Jacketts eins gefunden hat.
 

„Oh...“ Ich lasse mich in die Bank zurückfallen und sehe Phil dabei zu, wie er sich schnäuzt. Er hat Recht, ich bin wirklich ein Idiot. „Können wir drei nachher miteinander reden? Vielleicht während der Feier? Ich... wollte schon vorhin mit euch reden... aber ihr wart nirgends.“ Beide scheinen mir das nicht wirklich abzunehmen. Phil zerknüllt das Taschentuch in seinen Händen und Pat hat wenig auffällig einen Arm um seine Schultern gelegt wie Raily um meine. Ich kann unmöglich der Einzige sein, der etwas bemerkt. „Ich wollte mit euch darüber reden, dass ich weiß, ihr seid zu...“
 

Orgelmusik unterbricht mich. Ich könnte schwören, ich wurde heute schon mehr als einmal unterbrochen. Nur diesmal ist es äußerst positiv, sonst hätte ich gerade mal wieder das Falsche zur falschen Zeit gesagt. Schleunigst wende ich mich von meinen Geschwistern ab und dem zu, was die Musik uns so großartig ankündigt. Zwei Brautjungfern in knielangen, blauen Kleid schreiten den Mittelgang entlang. Eine von beiden kenne ich. Katleen sieht wirklich entzückend aus, was man von der anderen Brautjungfer nicht behaupten kann. Aber auch sie wirkt schöner, als sie vermutlich normalerweise ist, allein durch den Glanz der Frau, die am Arm meines Vaters zum Altar geführt wird.
 

Ich erkenne sie kaum wieder. Sie braucht kein Blumenkind, keine Lichtreflexe und kein aufwendiges Kleid, um wunderschön auszusehen. Der Blick, der fest an ihren zukünftigen Ehemann geheftet ist und den dieser mit einem anbetungswürdigen Ausdruck erwidert, genügt. Neben mir schnieft Phil erneut in sein Taschentuch und auf meiner anderen Seite seufzt Raily hingerissen. Unsere Blicken verfolgen einträchtig den Weg der Braut zum Altar, wo Vater ihre Hand an Aron übergibt, bevor er sich wieder zwischen mich und Phil setzt.
 

Die letzten bewundernden Ausrufe verklingen zusammen mit der Musik. Der Priester beginnt mit ruhiger und feierlicher Stimme zu sprechen. Ich sitze ganz still da und lausche der Zeremonie, die wirklich was von einer Märchenhochzeit hat. Raily drückt sich enger an mich und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab . Ich hebe die Hand und streiche ihm sanft durch seine weichen Haare. Vielleicht wünsche ich mir nicht unbedingt eine kirchliche Hochzeit für uns, aber diese Stimmung möchte ich einfangen, in ein Glas sperren und erst wieder freilassen, wenn Raily meinen Heiratsantrag angenommen hat und wir gemeinsam im Standesamt stehen.
 

Zu meiner Verwunderung ist es aber nicht nur Raily, der in diesem einmaligem Moment meine Nähe sucht. Zwei Personen gleichzeitig greifen nach meiner freien Hand und ein kurzer Blick zur Seite lässt mich Vater und Phil sehen. Sie umfassen gemeinsam meine Hand, obwohl Phil sich dafür ziemlich strecken muss. Ziemlich gerührt erwidere ich den Händedruck. Ich spüre regelrecht die Glückshormone, die durch mein Blut rauschen. Sie tanzen und singen und weinen. Oder bin ich das?
 

Wieder erschallen Musik und Applaus und zusammen mit den anderen stehe ich auf, applaudiere ebenfalls. Das frisch getraute Ehepaar küsst sich leidenschaftlich, als wären sie beide gerade Anfang 20 und frisch verliebt. Mutter sieht genauso jung aus wie ihr Ehemann, der jetzt laut dem Priester ebenso wie sie den Doppelnamen Loren-Zimmer trägt. Mir drängen sich augenblicklich zig kleine Spötteleien meiner Eltern ins Gedächtnis, in denen es um meine und Arons Unzertrennlichkeit ging und ob man Aron dann nicht auch gleich adoptieren könnte. Nun, ein Adoptionsantrag war gar nicht nötig, er gehört nun auch ohne zur Familie und das mehr als ich. Ein Fakt, der mich gerade mit erstaunlich wenig Bitterkeit erfüllt, vielleicht weil Raily mir in diesem Augenblick stürmisch um den Hals fällt und mich niederknutscht, angespornt durch den Kuss des Brautpaares.
 

Sekunden später ist der Kuss aber schon wieder vorbei und wir werden, angeführt durch das Brautpaar, mit nach draußen gezogen. Vor der Kirche ist nicht minder weniger Dekoration als in eben dieser. Alles ist absolut zauberhaft, abgesehen von dem Fotografen, der gezwungen lächelt und scheinbar lieber an einem ganz weit entfernten Ort wäre. Dabei dauert das Hochzeitsfoto wirklich nicht lange. Aufstellen und Lächeln klappt erstaunlich gut. Ich fühle mich derart beschwingt, dass ich gar nicht anders kann als zu lächeln.
 

Und plötzlich stehe ich vor Mutter und Aron. Aussprechen der allerbesten Wünsche. Nach 7 Jahren sehe ich meiner Mutter zum ersten Mal in die Augen. Zwei Herzschläge lang sind wir alle drei ganz erstarrt. Ich blicke zu Raily, der wie immer direkt neben mir steht und ziehe Kraft aus seinem Anblick. Dann trete ich vor, versuche meine Mutter und meinen Irgendwie-Stiefvater gleichzeitig zu umarmen, nur stehen beide derart steif da, dass ich schnell wieder aufgebe. „Alles Gute zur Hochzeit, ich freue mich für euch.“ Die Worte kommen aus dem Herzen, aber trotzdem klingen sie in meinen Ohren leicht kühl und bringen die beiden keineswegs dazu, ihre steife Haltung ein bisschen zu lockern. Das wird mir innerhalb einer Millisekunde klar und als ich versuche die beiden herzlich anzulächeln, spüre ich einen Zug an meiner Hand und Raily holt mich weg. Ganz unbemerkt von meiner kleinen, persönlichen Katastrophe folgen die nächsten Gratulanten, während ich Raily gegenüber stehe und dieser mir tröstend über die Schulter streicht. „Du hast es versucht....“
 

„Und bist gescheitert. Eine Katastrophe wie immer.“ Mit leicht elender Miene schaue ich meine Brüder an, die neben mir aufgetaucht sind. Pats sarkastischem Kommentar nach hatte ich erwartet, die beiden würden mich wieder wütend ansehen, aber sie lächeln. „Du wolltest mit uns reden? Nun, jetzt ist Zeit, bevor wir zum Hochzeitssaal fahren und man sich dort kaum bewegen kann, ohne jemanden auf die Füße zu treten.“ Mit dem Kopf deutet Pat zu einem Fleckchen außerhalb der Menge und ich nicke. Raily streicht mir ein letztes Mal über die Schulter und verschwindet danach in Richtung unseres Vater.
 

Ich meinerseits folge Pat und Phil. Ganz wie früher gehen wir eng nebeneinander her, Phil in unserer Mitte. Ich bin mir unsicher, wie weit sich mein und Pats angeschlagenes Verhältnis kitten lässt, aber als Phil erneut nach meiner Hand greift, weiß ich wieder, dass niemals alles verloren ist. Ich darf nur gleich nicht erneut alles kaputt machen.
 

Gleich, noch 4 Schritte, 3 Schritte, 2 Schritte, 1 Schritt, wir bleiben stehen. Ich schließe die Augen und halte Phils Hand fest. „Und, was wolltest du mit uns bereden? Jetzt lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.“ Ein Atemzug, zwei Atemzüge, ich öffne die Augen wieder. Direkt sehe ich Pat in die Augen. Keiner von uns blinzelt und Phil neben mir sicher auch nicht. Was für ein seltsamer Moment.
 

„Ich weiß, dass ihr ein Paar seid.“
 

Der Moment zerbricht.

Aussprache

Das Minenspiel meiner Brüder ist äußerst faszinierend, einander sehr ähnlich und doch verschieden. Am Ende, als die Zeit sich weiter dreht, ist es Phil, der mich interessiert und Pat, der mich abwehrend ansieht. Immerhin laufen sie nicht vor mir weg, das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.

„Woher weißt du das?“ Da ist keinerlei Wut in Phils Stimme und zu meiner Verblüffung hält er meine Hand weiterhin in seiner. Unsere Hände sind genau gleich groß und passen perfekt ineinander. Ich hatte vergessen, wie beruhigend es ist die Hand meines Bruders zu halten. Anders als bei Raily. Bei ihm fühle ich mich erwachsen. Jetzt und hier fühle ich mich wie ein kleines Kind. Der einzige Grund, wieso ich mich nicht so benehme und Phil um den Hals falle, ist das warnende Funkeln in Pats Augen.

„Ich weiß es schon seit Jahren. Es ist... nun ja... erinnert ihr euch noch an unseren 16. Geburtstag?“ Während des Erzählens beobachte ich ihre Gesichter mehr als genau. Pats Wut schwindet immer mehr und Phil sieht ehrlich besorgt aus, denn ausnahmsweise lasse ich wirklich nichts aus. Meine beschämenden Selbstvorwürfe, weil ich schwul bin, Aron, der sich immer mehr vor mir zurückgezogen hat, genauso wie ich mich vor ihm ihm und vor meinen Brüdern. Selbst Dennis ist diesmal ein Teil der Geschichte. Dennis, seines Zeichens ein ehemaliger Mitschüler von mir, der mir erst den Himmel versprochen und mich dann mit ein paar falschen Engeln betrogen hat.

„Oh, ich bring ihn um! Er war auch eingeladen heute, hat aber gestern schon den Jungessellenabschied ins Wasser fallen lassen. Vermutlich weil Aron ihm erzählt hat, dass du ebenfalls kommst.“ Pat sieht ein klitzekleines bisschen bedrohlich aus, aber mich stört das eher nicht. Denn jetzt bin ich nicht mehr derjenige, auf den er sauer ist. Nur, meine Geschichte ist ja noch nicht zu ende.

„Es gab da diesen einen Tag, an dem echt alles schief lief. In der letzten Pause des Schultages hatte Dennis mich wie immer hinter die Sporthalle bestellt. Ich hatte ihn bereits verziehen, dass er mich zwei Tage vorher mit dem Typen aus dem Sportgeschäft betrogen hatte. Seine Reue wirkte dermaßen echt... aber als ich seinen Schal wegzog, um ihn am Hals zu küssen, sah ich einen Knutschfleck, ganz neu. Ich hab Dennis von mir weg geschubst und geschrien, dass es aus ist zwischen uns.

Ich bin danach gar nicht erst zum Unterricht gegangen, sondern direkt nach Hause gelaufen. Und ratet mal, was passiert ist, als ich in mein Zimmer wollte und an deinem vorbei gekommen bin? Richtig, ich hab euch beide gehört. Ihr wart ziemlich... beschäftigt.

Davon wollte ich nichts hören und bin ins Badezimmer geflüchtet. Da hab ich euch zwar nicht mehr gehört, aber dafür etwas interessantes im Abfall entdeckt. Einen Schwangerschaftstest. Ich weiß nicht, ob ich drauf geachtet habe, ob er positiv war oder nicht. Allerdings, wenn ich mir Nicole ansehe, muss er es wohl gewesen sein.

Als ich das ganze letztlich nicht mehr für einen Albtraum hielt und ich mir eingestehen musste, dass mein Leben wirklich totaler Schrott war und es nicht so aussah, als würde es demnächst besser werden, hab ich das Angebot der Schule für ein Jahr nach Amerika zu gehen angenommen. Ich habe lediglich Vater eingeweiht, der nicht weiter nachgefragt und mir die Papiere unterschrieben hat.

Zum Glück hab ich schnell eine Universität gefunden, die mich nach dem Ende der Schulzeit angenommen hat. Es... ich wollte einfach nicht zurück. Und dann hab ich Raily kennen gelernt und er ist das beste, was mir je passiert ist. Aber... also...“

Ein Teil von mir will sich dringend entschuldigen, ein anderer plädiert dafür, die Rechtfertigung würde ausreichen. Phil und Pat sehen mich abwartend an. Ich sollte dringend etwas hinzufügen. Stattdessen jedoch sehe ich mich leicht panisch nach Raily um. Ich weiß nicht, wie ich den Rest ohne ihn meistern soll.

„Ist schon gut, wir nehmen deine unausgesprochene Entschuldigung an. Aber lauf nicht mehr vor uns weg.“ Meine andere Hand wird ergriffen und leicht gedrückt. Pat hat größere Hände als ich. Immer war er etwas stämmiger als Phil und ich und ist in der Pubertät lange vor uns in die Höhe geschossen. Wer uns sieht, mag kaum glauben, dass wir Drillinge sind. Ich mag es ja selbst nicht mehr glauben. Die beiden sind mir fremd geworden, ihre Frisuren, ihre Kleidung, die Worte, die sie wählen, einfach ihr Leben. Unsere verschränkten Hände sind ein Stückchen Kindheit, das immer da sein wird, in uns drin und in unseren Erinnerungen. Zaghaft löse ich meine Hände aus ihren und lächle scheu.

„Danke. Wollen wir zu den anderen zurück?“ Die Vertrautheit schwindet, aber das ist durchaus in Ordnung. In der nächsten Zeit muss es mehr solche kleinen Aussprachen zwischen uns geben. Ich muss ihnen von meinen Leben erzählen und sie mir von ihren. Ich weiß ja nicht mal, wo sie wohnen und als was sie arbeiten. Was waren ihre letzten Traumberufe? Ich kann mich nicht erinnern.

Schweigend gehen wir zu der Hochzeitsgesellschaft zurück. Das Händeschütteln und Fotografieren ist vorbei. Viele sind bereits in ihre Autos gestiegen und vor gefahren zum gemieteten Hochzeitssaal. Raily steht bei Vater, Katleen und Sven und unterhält sich angeregt mit ihnen. Ich sehe sein Grinsen und mir wird warm ums Herz, wie jedes mal, wenn er glücklich aussieht. Noch bevor er mich bemerkt, habe ich einen Arm um seine Hüfte gelegt und ihm einen Kuss auf die Wange gehaucht. Er lacht überrascht auf und lehnt sich an mich.

Dann löst sich unsere traute Runde auf, denn scheinbar sind nun wirklich alle weg und nur noch wir sechs hier am Rumstehen. Phil und Pat winken mir zu, als sie in ihr Auto steigen und ich mit den anderen zusammen in Vaters Auto unterkomme. Sven sitzt vorne und dreht sich die ganze Fahrt nach hinten, um mit uns zu reden und Katleen Kusshände zuzuwerfen, bis diese genervt nach ihm schlägt. Die Atmosphäre ist gelöst, irgendeiner von uns erzählt immer etwas, sodass die Fahrt regelrecht kurz wirkt. Ich erfahre auch, wie lange Katleen und Sven bereits zusammen sind. Zwei Jahre. Eine erstaunlich lange Zeit für zwei so wenig zusammenpassende und exzentrische Charaktere wie die beiden. Aber ich unterlasse es lieber das zu sagen, stattdessen schließe ich mich Raily an, der sie interessiert fragt, ob sie zusammenwohnen. Ihn begeistert alles und er ist heute noch viel wunderbarer als sonst. Kein Wunder also, dass Vater und meine ehemaligen Freunde ihn sofort ins Herz geschlossen haben.

Wie erwartet kommen wir als letzte beim Festsaal an. Dieser ist ursprünglich eine Disko, heute jedoch zweckentfremdet und genauso herrlich geschmückt wie die Kirche. Über dem Eingang sieht man erst wenig davon. Ein Banner hängt dort, auf dem die Hochzeit bekannt gegeben wird und das den Weg ins Innere weist, wo, wie von Pat vorausgesagt, alles voll ist. Ich sehe ein Büfett, das an den Wänden auf schneeweißen Tischen aufgestellt ist und äußerst edel aussehende Speisen beherbergt. Auf der Seite gegenüber des Eingangs steht die Hochzeitstorte, in weiß und himmelblau gehalten, schlicht und doch imposant. Ein Traum für diejenigen, die sie anschneiden dürfen. Von der Decke hängen mit weißen Rosen geschmückte Lampions und tauchen die Menschen in weiches Licht. Ich könnte mich täuschen, aber die Anzahl der Gäste scheint sich verdreifacht zu haben. Es gibt kaum genug Stühle für alle und mit den Stehplätzen sieht es nicht besser aus. Fraglich, wie man später tanzen will.

„Ich schätze mal, mit dem Tanzen wird es erst etwas, wenn das Büfett vorbei ist und die vollgefressenen Säcke sich aus dem Staub machen. Ich geh mal zu Anne und Aron und sag ihnen, dass sie endlich die Hochzeitstorte anschneiden sollen.“ Ich sehe Vater ungläubig hinterher und frage mich, seit wann er Gedanken lesen kann. Hätte er diese Gabe früher gehabt, sähe das Leben heute anders aus. Und währenddessen werde ich von Raily, Sven und Katleen mitgeschleift zu einer der wenigen freien Stellen in der Nähe des Büfetts. Von Nahen sieht es noch verlockender aus. Besonders angetan haben es mir die Würstchen im Schlafrock. Wie lange habe ich keine mehr gegessen? Ich stelle mich entschlossen neben sie und blicke dann gemeinsam mit den anderen zum Brautpaar.

Vater hat seine Pflicht erfüllt und die beiden zum Anschneiden der Torte gebracht. Sie stehen gemeinsam da und halten das große Messer in den Händen. Ihre Gesichter strahlen und selbst bis hierhin kann ich das Lachen hören, das erklingt, wenn ihnen jemand etwas zuruft. Raily drückt meine Hand ganz fest und als es langsam ruhiger wird, drehen die beiden sich um und schneiden die Torte an. Das erste Stück gebührt ihnen und sie füttern sich gegenseitig damit. Ich schäme mich ein klitzekleines bisschen fremd und stelle mir vor, wie ich Aron hinterher damit aufziehen würde, wären wir noch befreundet.

Erst danach wird die restliche Torte aufgeteilt und herumgereicht, wobei da jeder mithilft. Raily und ich teilen uns ebenfalls ein Stück, unterlassen das mit dem Füttern jedoch lieber. Wie ich nun herausfinde, besteht die Torte aus weißer Schokolade und blauer Glasur. Sie schmeckt himmlisch. Mein sentimentales Ich meint sich an die Geburtstagstorten von früher zu erinnern. Das, die Würstchen im Schlafrock und der in Mengen fließende Alkohol bringen mich in eine bedenklich-aufgedrehte Stimmung.

Irgendwann stehen Raily und ich gar nicht mehr neben dem Büfett, sondern bei meinen Brüdern, die einander kitzeln. Als Phil uns sieht, lässt er von Pat ab und springt mir in die Arme. Ich fange ihn auf und kurz drehen wir uns lachend im Kreis. Tatsächlich ist jetzt mehr freie Fläche vorhanden und wir stoßen mit niemanden zusammen. Raily neben mir lacht ebenfalls und plötzliche spüre ich Hände, die von hinten an meine Seiten greifen und mich kitzeln. Quietschend lasse ich Phil los und versuche mich gegen Pat zu wehren. Meine Brüder sind nicht weniger betrunken als ich, aber in dem Moment stört es mich absolut nicht.

Pat lässt erst von mir ab, als Phil uns frische Weingläser hinhält. Wir trinken den guten Wein in viel zu großen Schlucken und lachen uns dabei kaputt. Vermutlich wären wir erstickt, wenn Raily nicht den Vorschlag gemacht hätte rauszugehen. Also verlassen wir den Saal und treten in die kühle Luft, die meinen Kopf schlagartig klarer werden lässt. Was nichts an der Hochstimmung ändert, in der ich mich befinde. Ausnahmsweise ist gerade alles wirklich so gut, wie es scheint. Wir vier grinsen übers ganze Gesicht und gehen gemeinsam ein Stück, bevor wir uns zufällig dastehenden Bänken niederlassen, Raily auf meinen Schoß und Phil und Pat ganz dicht beieinander.

„Weißt du, am Anfang haben wir Aron gehasst.“ Ganz unvermittelt konzentriert sich Pats Blick auf mich und auch wenn er lächelt, ist seine Stimme ernst. „Nachdem das mit ihm, Mutter und ihrer Schwangerschaft raus gekommen ist, haben wir ihn für alles verantwortlich gemacht. Für dein Verschwinden, für die drohende Scheidung unserer Eltern, dass Vater ausgezogen war und Mutter andauernd am Weinen. Trotz unserer... bösen Blicke kam er öfters zu uns und redete mit Mutter. Ich hätte ihn wohl irgendwann zusammengeschlagen, wenn Phil nicht gemeint hätte, dass er eh schon ziemlich fertig aussieht. Einmal kamen seine Eltern vorbei und haben Mutter mit recht unschönen Worten bedacht. Danach zog Aron zu uns, ich nehme mal an, er ist zu Hause raus geflogen.

Mutter hat nie etwas erklärt. Sie war einfach so fertig. Obwohl ihr Bauch sich langsam gerundet hat, ist sie dünner geworden, blasser und mit dunklen Augenringen. Trotzdem ist sie weiterhin zur Arbeit gegangen und hat das Haus auf Vordermann gehalten. Wir haben uns schlicht geweigert, ihr zu helfen oder überhaupt noch mit ihr zu reden. Aron war ebenfalls keine Hilfe, er war nicht älter als wir und überfordert. Oft sind wir Nachmittags zu Vater gegangen, der nicht mal zu Hause war. Er hatte sich eine kleine Wohnung gemietet und sich in seine Arbeit vergraben.“

Pats Blick schweift von mir ab und richtet sich in die Ferne. Sieht er den aufgehenden Mond oder die Vergangenheit? Er wirkt traurig und Phil ebenfalls. Die beiden sehen sich in diesem Augenblick ähnlicher als sonst, dafür wiederum ist Phil nicht länger mein Spiegelbild. Sie sind nun füreinander ihre Spiegelbilder und teilen die gleiche Erinnerung.

„Dann ist Mutter zusammengebrochen und hätte Nicole fast verloren. Wir wissen nicht, was damals zwischen Aron und Vater geschehen ist, aber die beiden haben sich in ihrem Krankenzimmer getroffen und danach war alles anders. Es wirkte, als würde sich das Leben, das vorher angehalten hatte, wieder weiterdrehen. Mutter kam nach Hause, umarmte uns und sagte, sie würde uns lieben. Vater bot uns an bei ihm zu wohnen, aber wir lehnten ab. Er kam ab da sowieso öfters vorbei, half Mutter im Haushalt und die beiden redeten ganz normal miteinander. Aron kam einmal zu uns und entschuldigte sich. Nur um anschließend hinzuzufügen, dass er Mutter liebte und dem Kind ein guter Vater sein wolle. Es würde ein Mädchen werden, sagte er und strahlte dabei. Wir nickten und er ging, um mit unseren Vater die Wiege aufzubauen.“

Es ist schwer zu erkennen, ob Pat lächelt. Seine Mundwinkel zucken, sekundenlang, aber als er sich mir zuwendet und mich aus Augen ansieht, die geschmolzenen Eis gleichen, ist die Andeutung des Lächelns verschwunden.

„Nur du kamst nicht wieder, die Welt drehte sich weiter und du warst nicht mehr da. Über unsere Wut auf Aron hatten wir das irgendwie verdrängt. Wir trauten uns nicht Mutter nach dir zu fragen und von Vater wussten wir nur, dass du auf einer Schule in Amerika gegangen bist. Dein Handy hattest du dagelassen und keiner unserer Freunde wusste mehr. Denkst du, wegen unserer Beziehung hättest du uns nicht gefehlt? Du bist so dumm. Ohne dich gab es ein uns nicht mal mehr. Wir mussten nun nicht nur lernen, wie wir als Paar existieren konnten, sondern auch wie wir zwei übriggebliebene Drittel von drei Dritteln sein konnten. Sag, wie soll das gehen, wenn man nicht mal weiß, wieso der eine Teil fort ist?!“

Pat klingt heißer. Ich glaube, wenn Phil nicht seine Hand halten würde, wäre das Funkeln in seinen Augen noch viel gefährlicher. Schon jetzt lässt es mich den Blick abwenden. „Ich weiß nicht...“ Ich kann mich nicht mehr entschuldigen. Das habe ich bereits getan und es wurde angenommen, aber die nagenden Gefühle sind weiterhin da. Und das, was Patrick erzählt hat, ist noch längst nicht alles, das ist mir klar. Aber vermutlich ist es mehr, als er eigentlich erzählen wollte. Wir sind angetrunken und es war ein langer Tag, der noch nicht zu Ende ist.Mir entwicht ein Seufzen und ich höre es dreifach zurück schallen.

Raily drückt sich an meine Brust, seine Lippen streichen über meine Wange. Ich warte darauf, dass er das Schweigen, das wie ein schweres Tuch über uns liegt, beendet. Er kann so etwas besser als ich. Phil ebenfalls. Ich werfe ihm einen hoffnungsvollen Blick zu, aber er sieht mich nur nachdenklich an. Als er meinen Blick auffängt, streckt er mir seine freie Hand entgegen und klopft mir auf die Schulter. „Du bist so ein Idiot, Bruderherz.“

Von Raily und Pat kommt ein Glucksen und das Schweigen löst sich auf. Diesmal ist Pat, der noch immer recht heißer den Vorschlag macht zurück zu gehen. Wir stehen auf und gehen dem Banner entgegen, das uns daran erinnert, was für ein glücklicher Tag heute ist.

Stadtbummel

Nachdem ich mich sehr schwer getan habe mit dem Weiterschreiben, kommt hier das letzte Kapitel. Ein, zwei Tage später dann werde ich noch den Epilog hochladen und "Abhandlung" damit abschließen. Ich bedanke mich bei allen meinen Lesern und Kommentarschreibern für eure Aufmerksamkeit.
 

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Kapitel 9 ~ Stadtbummel
 

Ich bin früh wach, trotz der späten Stunde, bei der es mich gestern ins Bett verschlagen hat. Neben mir liegt Raily auf dem Bauch, die Arme unter dem zur Seite geneigten Kopf verschränkt. Im Schlaf hat er die Ruhe gefunden, die mir gerade fehlt. Mein Kopf dröhnt vom übermäßigen Alkoholkonsum am gestrigen Abend, dennoch kann ich nicht einfach wieder einschlafen und den Kater auskurieren. Meine Gedanken kreisen um das Glück, das ich in Arons und Mutters Augen habe strahlen sehen und gleichzeitig muss ich an Pats leidvolle Erzählungen denken. Es ist schwer zu begreifen, welchen Weg meine Familie ohne mich zurückgelegt hat, bis sie im Hier und Jetzt angekommen sind.

Nach der zwanzigsten gedanklichen Rekonstruktion aller Gespräche, die ich in den vergangenen Tagen geführt habe, greife ich frustriert nach dem Digitalwecker des Hotelzimmers und blicke auf die Uhrzeit. Fast neun Uhr und Raily pennt weiter. Einerseits will ich mit ihm reden, andererseits wüsste ich nicht, worüber wir noch reden sollten. Wir haben jede Schuldfrage halb tot gekaut. Ich weiß genau, dass alles an mir liegt und ich derjenige bin, der das letzte, fehlende Gespräch mit Mutter und Aron suchen muss.

Schließlich stehe ich auf und gehe duschen. Etwas zu tun ist immer besser als lethargisch herumzuliegen und abzuwarten, ob sich die Dinge von selbst ändern. Außerdem ist die Dusche ein wunderbarer Ort, um über die eigene Dummheit zu philosophieren.

Was anderes mache ich am Ende auch nicht. Ich stehe an die Wand gelehnt da, lasse das warme Wasser auf mich hinunter prasseln und wundere mich, wie ich es je geschafft habe, Freunde zu finden. Irgendwann muss ich irgendwie etwas richtig gemacht haben und auch zwischendurch scheine ich brauchbar zu sein, wie kann Raily es sonst mit mir aushalten?

Gerade als ich an diesen denke, höre ich die Badetür aufgehen. Ich kann nichts dafür, ich muss sofort grinsen. Durch das Glas der Dusche hindurch beobachte ich seine schemenhafte Gestalt, wie sie sich auszieht und die Sachen achtlos in eine Ecke wirft. Typisch. Nachher werde ich derjenige sein, der seine Kleidung vom Boden aufhebt und ordentlich im Koffer verstaut, weil er mit so einfachen Dingen heillos überfordert ist. Aber im Moment ist das eher ein unwichtiger Gedanke. Mein Verstand oder besser gesagt mein Unterkörper, ist damit beschäftigt, was es bedeutet, wenn Raily mir morgens in die Dusche folgt.

Eine geisterhafte Hand zieht die Schiebetür zur Seite. Raily steht nun vor mir, bestens zu erkennen und nackt wie Gott ihn schuf. Möglicherweise wird durch diese Aktion der Boden vor der Dusche nass, aber wen interessiert es? Wortlos, mit exakt dem gleichen Grinsen auf dem Gesicht wie ich, tritt Raily ein und zieht die Tür hinter sich wieder zu. Es wird eng in der Dusche.

„Schämst du dich nicht? Machst mich nicht wach, lässt mich im Bett allein und scherst dich einen Dreck um meine morgendlichen Probleme. Ich dachte, du liebst mich, hm? Ich will einen Beweis!“

Prustend lache ich auf und spritze Wasser nach ihm.“Oh bitte, hör auf zu reden, als seien wir in einem schlechten Porno. Sag doch einfach, dass du einen Blowjob willst. Schau, ich erröte nicht und beschimpfe dich nicht als Perversen, obwohl du einer bist“, erwidere ich schelmisch und behalte dabei angestrengt meine Hände bei mir. Er steht mir so nah, ich könnte die Wassertropfen zählen, die über sein Gesicht laufen. Weiter runter sehe ich nicht, das beste hebt man sich auf. Außerdem könnte er ruhig darum bitten.

Raily verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich ungnädig an. „Dann mach. Bis du dich mal angefangen hast, bin ich wieder eingeschlafen. Du kriegst auch was zurück.“

„Ja? Was denn? Räumst du deine Sachen auf, wäschst sie und putzt die Fenster, sobald wir wieder zu Hause sind?“

Vielleicht war das etwas zu viel. Es hatte eigentlich wie ein Scherz klingen sollen, trotzdem sieht Raily mich jetzt ein wenig verstimmt an. „Ich dachte ebenfalls an einen Blowjob ... bin ich wirklich so unordentlich? Also mei...“ Hastig unterbreche ich ihn mit einen Kuss.

Als wir uns wieder voneinander lösen, lächle ich entschuldigend. „Ich hab nur Spaß gemacht, ok?“ Mit diesen Worten lasse ich mir auf die Knie niedersinken und schubse Raily leicht gegen die zum Glück stabile Schiebetür. Seine Erregung ist nun deutlich vor meinen Gesicht. Ich brauche nur die Zunge auszustrecken, um sie zu berühren. Mein Atem kitzelt sie. Ich blicke ein letztes Mal zu ihm auf, direkt in seine Augen, die mich abwartend und begierig mustern. Dann beginne ich dieses kleine, wundervolle und vermutlich niemals langweilig werdende Spiel.
 

Nach der Dusche frühstücken wir. Im Speisesaal des Hotels ist es voll und laut. Kleine Kinder laufen herum und schreien mehr als dass sie essen. Meine Kopfschmerzen drohen dadurch wieder einzusetzen während Raily es vollkommen gelassen ignoriert. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegnen, strahlt er mich lebhaft an. Zwischendurch verdrückt er Unmengen des, seinem Glauben nach, traditionellen deutschen Frühstücks. Ich möchte ihm die Illusion nicht nehmen, dass jeder Deutsche sich morgens die Mühe macht, Pfannkuchen zu backen. Mir wird davon sogar eher schlecht, weshalb ich auf zwei magenfreundliche Scheiben Brot mit Aufschnitt umsteige. Scheint, als sollte ich in Zukunft aufpassen, was ich schlucke, wenn ich den Abend davor hauptsächlich Alkohol zu mir genommen habe.

Schließlich ist auch Raily fertig mit Essen und wir stehen auf. Ich bin froh, den lärmenden Kindern zu entkommen. Eine Reisegruppe sieht uns auf dem Weg nach draußen schief an und ich erinnere mich an das, woran ich normalerweise selten denke. Selbst hier wird unsere Sexualität nicht überall akzeptiert, aber zumindest wagt in der Öffentlichkeit niemand, uns verbal anzugreifen. Bei Pat und Phil wäre es anders. Allein aus Trotz greife ich bei dem Gedanken nach Railys Hand und lächle die Reisegruppe offensiv an.

Mein Lebenspartner, der von meinen Gedanken natürlich nichts mitbekommen hat, lehnt sich einen Augenblick ungewöhnlich kuschelbedürftig gegen mich. „Was genau ist jetzt unser Plan?“, fragt er mich und hat bereits unsere körperliche Nähe aufgelöst. Aber unsere Hände bleiben ineinander verschränkt.

„Ich dachte, wir bummeln ein wenig in der Stadt, bis eine genügend humane Zeit erreicht ist, um bei einem frischgebackenen Ehepaar vorbeisehen zu dürfen. Dreizehn Uhr nachmittags vielleicht?“ Raily lässt sich meine Worte durch den Kopf gehen und nickt anschließend zustimmend.

Auf dem Weg in die Innenstadt kommen uns öfters Jungen mit Skateboards entgegen. Zu meiner Jugendzeit hat es etwas außerhalb einen aufwendig gestalteten Skateboardpark gegeben. Ein paar Wochen lang hatte Sven einen Faible für diesen Platz entwickelt, weil dort immer ein Mädchen anzutreffen gewesen war, die wiederum einen der waghalsigen Jungen angehimmelt hatte, die auf den Bahnen ihr Leben riskierten. Uns hat er mitgenommen und wir haben ihm bereitwillig moralische Unterstützung zuteil werden lassen. Ich meine mich zu erinnern, dass es Aron gewesen war, der letztlich zu ihr hingegangen ist und sie gefragt hat, was sie von seinem Kumpel mit dem lila T-Shirt hielte. Eine Minute lang hat sie zu uns hergesehen und ihn betrachtet. Eine weitere Minute später kam Aron zu uns zurück und hat schonungslos ihre Worte wiedergegeben. Wir sollten lieber Geld für eine Schönheitsoperation sammeln und ihm den Gutschein zu Weihnachten schenken, hatte sie gesagt. Damit endete Svens Obsession, er erwähnte sie nie wieder. Katleen jedoch hat in seiner Abwesenheit noch mindestens eine Woche über die eingebildete Kuh geschimpft.

Raily, dem ich die Geschichte erzähle, lacht. „Sie war damals schon in ihn verliebt! Ihr wart nur zu dumm, um es zu bemerken.“ Ich verziehe keine Miene, denn wo er Recht hat, hat er Recht. Gerade als er ausgesprochen hat, kommt mir frontal ein weiterer Skateboarder entgegen. Mein Atem stockt und ich weiß genau, ich kann nicht ausweichen. Er dafür schafft es irgendwie, streift mich aber, sodass ich zur Seite taumle und hinfalle. „Au“, flüstere ich überrascht und weiß einen Augenblick nicht, was ich jetzt tun sollte.

Raily reagiert schneller. Er greift nach meinen Arm, um mich hochzuziehen. „Alles in Ordnung? So ein Idiot! Hat nicht mal zurückgesehen.“

Ich bin zwar ebenfalls nicht begeistert, bringe jedoch automatisch ein beruhigendes Lächeln zustande. „Schon gut, nichts passiert, glaube ich.“ Ein paar Passanten, die neugierig hergeguckt haben, hören meine Worte und sehen weg. Ohne Verletzte ist sowas eben nicht mehr interessant.

Meine nächste Sorge gilt meinem Handy, von dem ich hoffe, dass es nicht den Boden gestreift hat. Tatsächlich ist es noch unversehrt, dafür bemerke ich allerdings zwei verpasste Anrufe. „Kann mich nicht erinnern, das Handy auf lautlos gestellt zu haben. Du?“, richte ich mich an Raily, der kopfschüttelnd verneint. Technik. Irgendetwas läuft immer falsch.

Da die verpassten Anrufe von meinen Vater sind, rufe ich sofort zurück. Schließlich sind Anrufe von ihm ungewöhnlich, seitdem er seine Begeisterung für SMS entdeckt hat. Er nimmt sofort ab.

„Peer? Wo stecken du und Raily? Warte, warte, warte, sag nichts. Phil sollte dir eigentlich gestern Abend Bescheid geben, dass Aron und Annemarie heute zwölf Uhr in ihre Flitterwochen nach Venedig fliegen. Aber er hats vergessen. Alkohol! Also wirklich, wie alt seid ihr? Du hast noch zwei Stunden, wenn du mit ihnen reden willst. Willst du uns nachher am Flughafen treffen?“

Eindeutig zu viele Informationen auf einmal. Raily sieht mich fragend an während ich meinen Vater anschweige. Mir ist danach aufzulegen, mich in die nächste Ecke zu verziehen und empört zu schmollen. So tief wie nur möglich hole ich Luft und beruhige mich.

„Wann?“

„In einer halben Stunde“, antwortet er. Plötzlich fällt mir die Entscheidung sehr leicht.

„Nein Vater, nicht so. Nicht zwischen Koffern und gehetzten Menschen. Nicht mit einer Nicole, die an Mutters Rockzipfel hängt. Bitte richte ihnen aus, dass ich ihnen wunderbare Flitterwochen wünsche und ich mich danach bei ihnen melden werde. Ich laufe nicht weg, versprochen.“

Rührung steht in Railys Augen, er scheint zu ahnen, worum es geht. Inmitten mehrerer Menschen sieht er nur mich und das fühlt sich wahnsinnig gut an. Am anderen Ende der Leitung höre ich Geräusche, vermutlich von Vater, der meine Worte auf sich einwirken lässt. Ich bin selbst erstaunt. Unbemerkt ist das gehetzte Gefühl in meinem Herzen verpufft und hat mir wohltuende Ruhe hinterlassen. Allerdings kommt von Vater keine Antwort, weshalb ich mich ziemlich schnell wieder unsicher fühle. Sollte ich ihn nicht eigentlich atmen hören?

Etwas rumpelt, ein leiser Fluch dringt zu mir durch. Und dann höre ich wieder Atem.

„Ähm ... Hi Peer ... Wolfgang meinte, du wolltest mit mir reden?“ Raily blickt mich unsicher an als ich bei den Worten das Gesicht verziehe.

„Aron ... Oh Gott ... Ich wollte nicht direkt ... Also ich weiß auch nicht ... Möglicherweise ... wollte ich sagen, dass es mir leid tut. Ich muss dir, nein, euch viel erzählen. Aber das hat Zeit, oder? Sehr wahrscheinlich wird keiner von uns morgen sterben. Deswegen können wir auch noch in einer Woche oder einem Monat miteinander reden. Allerdings hätte ich bereits viel eher zurückkommen sollen, deshalb werde ich mir nicht zu viel Zeit lassen. Ich werde euch schreiben und anrufen und ... darf ich das überhaupt?“

In meinem Magen hat sich ein mulmiges Gefühl ausgebreitet. Ich glaube, ich habe ein wenig den Faden verloren. Jedenfalls kommt es mir recht wirr vor, was ich gerade gesagt habe. Von wegen Ruhe und klare Sicht auf die Dinge. Ich sollte zum Arzt und fragen, ob es möglich ist mit Mitte Zwanzig in die Midlifecrisis zu kommen. Würde meine Stimmungsschwankungen erklären.

Unhörbar stöhnend werfe ich mich in Railys Arme. Wo wir uns befinden ist mir herzlich egal. Ich passe lediglich auf, dass mir das Handy nicht herunterfällt.

„Peer? Es ist in Ordnung. Ich werde es Annemarie ausrichten. Keiner von uns erwartet alles auf einmal. Annemarie ist schon froh darüber, dass du dich mit Phil und Pat ausgesöhnt hast. Und ich ... nun, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich erwarte. Was sind wir füreinander, beziehungsweise was könnten wir hiernach noch füreinander sein? …Warte einen Moment“, bittet er mich, ich höre gedämpfte Geräusche und eine andere, eindeutig weibliche Stimme.

„Du hast Recht. Kein gutes Thema in dieser Hektik. Nicole packt gerade unsere Koffer wieder aus, weil sie denkt, wir hätten Schokolade da drinnen versteckt ...“

Er lacht halb liebevoll, halb genervt und ich kann nicht anders als mitzulachen. Die Nervosität bleibt jedoch. Wieder erklingen unerkennbare Geräusche aus dem Handy. Heute scheint kein guter Tag zu sein, wenn man auf umgängliche Kinder hofft. Ich will eindeutig nie selbst welche.

„Schafft ihr es?“, frage ich schmunzelnd nach. Fast bildlich sehe ich vor mir wie Aron nickt. Bis ihm auffällt, dass ich die Bewegung nicht sehen kann.

„Klar. Ist Übungssache. Aber trotzdem wäre es besser, wenn ich wieder mithelfe. Willst du noch mal mit Wolfgang reden?“

Ich verneine und unser Gespräch endet. Die Umgebung kehrt zurück, in ein wenig leuchtendere Farben getaucht als zuvor und ein bisschen lauter als eh schon. Irgendwann muss Raily mich an die Seite gezogen haben, damit ich niemanden störe. Ganz aufmerksam sieht er mich an. Ich klaue ihm einen kurzen, intensiven Kuss.

Sein prüfender Blick verschwindet jedoch nicht. „Du und dein Talent nichts so klappen zu lassen wie es ursprünglich geplant war. Aber ich bin trotzdem stolz auf dich, du hast dich jetzt offiziell mit deiner Familie ausgesöhnt.“

„Habe ich das wirklich? Es fühlt sich seltsam an.“ Raily lächelt schief und hebt die die Schultern. Wenn ich es nicht weiß, kann er es ebenfalls nicht wissen. Aber irgendwie passt es trotzdem. Werde ich eben zum passionierten Briefschreiber. Neue Hobbys können nie schaden.

Vor lauter Nachdenken bleibe ich mal wieder ganz trottelig stehen. Derweil ist Raily viel weiter als ich und zieht mich mit sich während er redet. „Trotzdem haben wir noch einen DVD-Abend mit Sven und Katleen vor uns. Und vergiss deine Brüder nicht. Ihr schuldet einander einiges an Zeit und Gesprächen“, sagt er mit einem unterschwellig drohenden Tonfall. Er kennt mich zu gut.

„Ich verspreche es. Keine Ausflüchte und kein Weglaufen mehr.“ Ich lege soviel Ehrlichkeit in meine Worte wie möglich.

Er hat es verdient, dass ich mein Bestes gebe. Überhaupt hat Raily alles verdient, was ich ihm geben kann. Ich lächle ihn von der Seite her an und drücke seine Hand. Leicht kühl, vertraut und tröstlich hat sie sich um meine geschlossen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um es auszusprechen, aber in einigen Jahren will ich ihn erneut fragen, ob er mich heiraten will. Mein Verstand sagt mir, es sei kitschig und unwichtig. Trotzdem möchte ich einen Ring an seiner Hand spüren und den gleichen an meiner. Einfach, weil ich ihn so sehr liebe.

„Was ist? Du solltest auf den Weg achten, nicht mich verträumt ansehen“, weist er mich zurecht, hat dabei jedoch ein funkelndes Lachen in den Augen. Ich grinse und wende dann meinen Blick ab.

„Nichts ist. Ich habe nur daran gedacht, wie toll du heute aussiehst“, antworte ich ihm und ohne hinzusehen weiß ich, dass er rot wird. Ich bin zufrieden.

Eingehaltene Versprechen

Zurück in Amerika werden wir viel zu schnell vom Alltag überrannt. Das Haus besteht darauf geputzt zu werden. Ich muss Vorlesungen besuchen und für Prüfungen lernen. Raily hingegen macht neue, praktische Erfahrungen in seinem zukünftigen Beruf. Kurz vor unserem Heimflug hat er mir seine Zweifel darüber anvertraut, ob es wirklich das Richtige für ihn ist. Allerdings waren es nicht wirklich seine eigenen Gedanken, sondern die seiner Großmutter, die ihn lieber als schicken Arzt gesehen hätte. Wieder ein Grund, mich schlecht zu fühlen. Manchmal vergesse ich, dass er ebenfalls eine Familie hat, die Ansprüche an ihn stellt. Doch diesmal habe ich alles richtig gemacht und ihm die Zweifel ausgeredet. Jetzt ist er zurück in seinem Praktikum und fühlt sich wohl. Wahrscheinlich wird er der einzige, humane Bankier im Umkreis von einer Million Kilometern werden. Worüber ich jedoch keine Witze machen darf. Er glaubt an das Gute in seinen Kollegen.

In unserem persönlichen, kleinen Chaos fällt es leicht, die Verpflichtungen zu vergessen, die ich in Deutschland eingegangen bin. Phil ist zum Glück kein bisschen zurückhaltend und ruft mich mindestens einmal täglich an, um mir von sich, Pat und Eichhörnchen, die er durch das Wohnzimmerfenster hindurch beobachtet hat, zu erzählen.

Das Mitteilungsbedürfnis muss er von Vater haben, der sich jetzt ebenfalls öfter meldet. Er und Raily verstehen sich umwerfend. Beide haben neuerdings die Kochkunst für sich entdeckt. Per E-Mail werden unablässig Rezepte ausgetauscht, die Raily sofort ausdruckt und in eine Mappe einheftet. Bald sind unsere Tintenpatronen leer, vermutlich dann, wenn ich mir etwas für die Universität ausdrucken muss.

Bei anderen gestaltet sich die Kontaktaufnahme schwieriger. Ich habe Aron und Mutter angerufen, nachdem sie aus den Flitterwochen zurückgekommen sind. Es wurde ein kurzes und hektisches Gespräch. Mit Telefonanrufen habe ich es danach nicht mehr probiert. Aber ich schreibe ihnen. Aron SMS und Mutter Briefe. Seit zwei Monaten mittlerweile.

Die Vertrautheit setzt nur langsam wieder ein. Wie Blinde tasten wir uns in einem Labyrinth entlang und wissen nicht mal, was in der Mitte sein wird. Einen Versuch ist es trotzdem wert. Ich bin froh, diese zweite Chance zu haben und mit Raily an meiner Seite bin ich mir sicher, die Stärke zu besitzen, sie zu nutzen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von: abgemeldet
2012-10-08T18:56:40+00:00 08.10.2012 20:56
- KF -
Guten Abend.
Da du mich mit "Der Anfang" so neugierig gemacht hast, ist es an der Zeit, mal was anderes von dir zu lesen, denke ich.
Dann lege ich einfach sofort mit meinen Notizen zu diesem Kapitel los:

Der Einstieg ist... grandios. Trage ich zu dick auf? Ich mag ihn wirklich sehr. :)

„Wieso nochmal hast du dieses Ding gekauft?“ Frage ich ihn mäßig interessiert.
"frage" würde ich klein schreiben und vorher einen Punkt setzen. Vor wörtlicher Rede mache ich außerdem immer einen Zeilenumbruch, aber manchmal kann man darauf vielleicht verzichten.

Okay, im ersten Moment dacht ich, die Ex-Frau von Peer hätte geschrieben. *lach*

Das ist ein wunderbares erstes Kapitel, wieder wunderbar geschrieben. Da bin ich gespannt, was daraus wird.
Deine Rechtschreibung ist super, und ich schätze, dass ich entweder nichts gesehen habe oder mögliche vorhandene Fehler übersehen habe. Das ist ein gutes Zeichen.
Übrigens kann ich Raily ein bisschen verstehen. Das Älterwerden kann manchmal erschreckend sein.

Liebe Schreibziehergrüße,
Turnaris
Von:  -lyra-
2012-08-21T06:42:15+00:00 21.08.2012 08:42
ich finds schade, dass dies jz schon das letzte kapitel ist, ich hätte mich gefreut wenn es noch ein wenig weiter gegangen wäre. ich freu mich aber, dass er sich mit seiner familie wieder so gut versteht und wenn du vl mal einen kleinen one-shot von der hochzeit in ein paar jahren machen könntest, würde ich mich sehr freuen ;) :D
Von:  MuffinMurderer
2012-03-26T23:26:51+00:00 27.03.2012 01:26
AAAAAAAAaaaaalso, mir gefällt die Stary auch ziemlich gut und ich finde die Charaktere toll.

Aber mir is aufgefallen, dass du irgendwann angefangen hast Peer und einen seiner Brüder zu vertauschen.
z.B. "Katleen eilt zur Braut, während Peer Raily und mir die Umzugsmöglichkeiten für Männer zeigt." - die Geschichte ist doch aus Peers Perspektive geschriebn?!
Von:  Inan
2012-03-26T21:27:34+00:00 26.03.2012 23:27
Bisher echt extrem toll <3
Peer ist toll und die Zwei/Drillinge auch und Raily erst recht und Aron..naja, der ist bestimmt auch ein netter Kerl, wenn näher in den Vordergrund rückt xD

Von:  -lyra-
2012-03-26T20:02:27+00:00 26.03.2012 22:02
woah... finds klasse das du wieder ein kapitel hochgeladen hast *_* und es is so toll wie immer find ich.

hätte mir nie gedacht, dass das alles auf einmal passiert is und dass das dann ausschlag gebend war dafür, dass er nach amerika gegangen is. bin schon gespannt wie es weitergeht :D

lyra
Von:  Melange
2012-02-13T16:45:28+00:00 13.02.2012 17:45
Hallo,
bis jetzt gefällt mir die Geschichte sehr gut. Die Charaktere haben alle ihre eigenen Persönlichkeiten und Macken, die sie einzigartig machen (besonders toll finde ich, dass mit Sven ein hässlicher Chara dabei ist!). Die Beziehung zwischen Peer und Railey wirkt sehr warm und echt, die Zerrissenheit beim Heiratsantrag ist besonders gut gelungen.
Bei Peers Gedanken scheint hin und wieder die Ansicht der Autorin durch ... ist schwer zu beschreiben, aber ich merke bei dem einen oder anderen Satz, dass da nicht Peer spricht, sondern du. Vielleicht geht es auch nur mir so. ^^;
Außerdem steckt schon fast zu viel Drama in dieser einen Geschichte, vor allem als herauskommt, dass Peers Brüder eine Beziehung miteinander haben. Da dachte ich mir, so viel auf einmal kann doch nicht wirklich passieren ...
Der Titel gefällt mir übrigens sehr gut. Passt sowohl zum Thema als auch zu Peers kühler Art und dem Hintergrund seiner Hochschulbildung. Bin gespannt auf die Fortsetzung!

Mfg,
Melange
Von:  -lyra-
2012-01-16T20:31:39+00:00 16.01.2012 21:31
woaaaah *_*

traumhaft <3

find es wirklich unglaublich, dass peer raily nen heiratsantrag macht und ich finde es eine frechheit das ihn raily (vorerst) ablehnt xD

und das mit den brüdern... O_o unglaublich, das hätte ich mir da wirklich nicht erwartet.

es gibt immer jemanden, der einen fertig machen muss, damit man weis, was man an anderen menschen hat.

hast wirklich supi geschrieben das kapi ^_^
Von:  -lyra-
2011-12-30T07:15:33+00:00 30.12.2011 08:15
alsooooo xD

da ich jz endlich adult seiten lesen kann, hab ich jz auch endlich das 1. kapi gelesen :D

und ich sag dir was^^ die sexszene is gut geworden! wirklich klasse! für mich einfach nur zum dahinschmelzen <3

ich finds aber wirklich heavy, dass sein bester freund seine mutter heiratet Oo das is wirklich unglaublich :O

bin schon gespannt wie es weitergeht *hihi* ^^
Von:  -lyra-
2011-12-27T19:39:19+00:00 27.12.2011 20:39
huiii :D

bin schon gespannt wies weitergeht^^


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