morgenblau
morgenblau
Mọr·gen
der <Morgens, Morgen>1 (≈ Frühe ↔ Abend) die Tageszeit am Beginn des Tages
Inos Herz pochte viel zu laut, dafür, dass sie nur am Frühstückstisch saß, während Hikari Zeitung las und sich immer wieder ein paar Körner Reis in den schmalen Mund schob. Inos Finger tippelten nervöse Rhythmen auf die Tischplatte, und ohne es zu wollen, kam immer wieder kurz-kurz-kurz, lang-lang-lang, kurz-kurz-kurz, SOS, als wäre ihr soeben aufgefallen, dass sie auf dem Schiff zwar ein Bündnis geknüpft hatte, die Titanic allerdings trotzdem untergegangen war. Hikari sah nicht auf: „Willst du mir sagen, was los ist, Ino, oder soll ich abräumen?“
Heute war es bewölkt, ein unangenehmes Grau-in-Grau, und irgendwo hinten am Horizont begannen sich dunkle Wolkenmassen aufzutürmen für einen Tag voller Gewitter und Sturm.
„Ich glaube, ich hab Sasuke gesehen.“
Hikari zog ihre Augenbrauen hoch, in ihren kühlen Augen ein Ausdruck des Erkennens. „Uchiha Sasuke? Dein Ex-Freund?“
Ino nickte.
„Und weiter?“ Hikaris Stimme konnte unglaublich hochmütig sein, befehlshaberisch und allmächtig, ihre ganze Intelligenz, ihr Charisma und ihre Unverfrorenheit in einer makellosen A-Dur-Harmonie. Ino schluckte trocken. „Ich weiß es nicht.“ Vielleicht war genau das ihr Problem. Dass sie so wenig wusste, dass sie so uneins mit sich selbst war, dass ihre Impulsivität verhinderte, einen klaren Blick zu erreichen, hoch und höher, aber doch nicht am höchsten, nah genug um zu sehen, weit genug, um keine Schäden zu erlangen.
„Keine Ahnung, wie das normalerweise bei Lesben“, Ino zuckte bei dem Wort leicht zusammen, „ist, aber ich hab eigentlich keine Lust, mir den Kopf auch noch über irgendwelche Kerle zu zerbrechen, wo ich doch zumindest ein Mal außer Konkurrenz stehen sollte.“ Hikaris klare Bernsteinaugen fingen das natürliche Licht ein und saugten es tiefer hinein, bis sie so dunkel wie Donnergrollen waren.
Ino erhob sich, räumte ihr Geschirr in die Spülmaschine. Sie sagte: „Ich liebe dich.“
Hikari blieb einen Moment still. „Ich liebe dich auch.“ Und dann stand sie auf und stellte sich zu Ino. Sie griff nach einer verlorenen Strähne ihres blonden Haares. „Aber ich erwarte nichts, Ino. Ich habe nie etwas erwartet.“
Der Satz ging ihr nicht aus dem Kopf. Und dieser verdammte Regen! Verfluchte Dreckscheiße, ich könnte…
Ino rempelte mit voller Wucht einen fetten Mann an, der sie lüstern angestarrt hatte, selbst während dieses Wetters gerne bereit dazu, nass zu werden, um durch den Regenmantel ein paar Blicke erhaschen zu können, dieses Ekel. Eine Windböe ergriff sie und wie nicht anders zu erwarten, ließ der 6 651,85 Yen teure Regenschirm nach. Sie wischte sich notdürftig das Gesicht mit einem halbnassen Taschentuch ab, zum nächsten Café eilend und hoffend, dass das Make-up das hielt, was die Kosmetikerin versprochen hatte.
Eigentlich liebte sie so ein Wetter. Früher, als sie noch jünger gewesen war, hatte sie dann mit Gummistiefeln in den Pfützen getobt, mit nassen Haaren und strahlenden Augen, sie hatte Spaß gehabt. Und manchmal fragte sie sich, wo der geblieben war. Manche Leute dachten von ihr, dass sie spielerisch war, kindisch und naiv und gutgläubig, absolut attraktiv in dieser gespielten Unschuld. Sie passte in ihre Rolle, mit den blonden Haaren und den veilchenblauen Augen – und solange die Leute nur das in ihr sahen, bitteschön, sie hatte nichts dagegen, so ein oberflächliches Spiel mitzumachen.
Sie stieß die Tür zu einem Café auf, und alle Leute darin drehten sich zu ihr um, in der Hoffnung, dass die Kälte bald verschwinden würde, mit dem bedauernden Blick derer, die zusahen und nicht helfen würden. Ino zuckte unbemerkt mit den Schultern. Kälte war etwas, das ihr mittlerweile nichts mehr ausmachte. Nicht nach Sasuke und Hikari…
„Einen Cappuccino… und… ein Stück Schokoladentorte, bitte.“ Die Frau, die vor ihr stand, war gut eingekleidet, auf die künstlerisch verwirrte und intuitive Art, die manchen Menschen eigen war. Ihr Lächeln war verhalten, aber da, die Mitte zwischen Auffallen und Nicht-Auffallen, etwas, das bei ihr absolut natürlich wirkte. Sie bezahlte, nahm das Wechselgeld entgegen und lächelte höflich, bevor sie ihr Getränk und das Kuchenstück zu einer der Nischen des Cafés balancierte. Ino wollte sich gerade von ihrer Beobachtung abwenden und bestellen, als sie in einem zittrigen Atemzug von Schicksal das Kuchenstück auf den Boden fallen sah. Direkt neben sich. „Oh-… oh mein Gott, das tut mir leid!“ Die Frau sah zerknirscht und verlegen zu Ino und sagte: „Beinah hätte ich Sie getroffen.“
Sie gehörte zu den Menschen, mit denen man Ino an einen Tisch setzen würde, die Art Frau, die wusste, wann man zuhören und wann man sich selbst ins Licht rücken sollte.
„Macht doch nichts.“ Ino klemmte sich eine ihrer langen Haarsträhnen hinters Ohr und machte Platz für die Verkäuferin, die mit einem erzwungenen Lächeln und dahinter Stahl das Chaos wegwischte.
„Ich lad Sie dafür ein, ja?“, sagte die Frau mit den kirschfarbenen Haaren. Bei welchem Friseur hat sie den Farbton hinbekommen?
„Das ist zu freundlich von Ihnen, …?“
„… Sakura.“ Sie lächelte.
Die Geräuschlosigkeit des Gestecks war bisher das einzige gewesen, das den Raum mit tosendem Lärm gefüllt hatte, und selbst das war nur sanft und leise gewesen, bedacht, niemanden zu stören, bedacht, ein idyllisches Bild zu projizieren. Nach all den Jahren kaufte Hyuga immer noch das gleiche Besteck.
„Was“, Hinata zögerte und setzte dann mit einem rauen Schlucken erneut an, „was haben-… habe ich während dieser Zeit zu tun, tou-san?“
„Es ist besonders in diesem Stadium wichtig, unsere Firma als traditionelles Familienunternehmen zu publizieren.“ Was wir zwar nicht sind, aber das soll nicht mein Problem sein. „Deswegen wirst du, Hinata, in den nächsten Wochen mit Neji zusammen einige Veranstaltungen besuchen, lächeln und nicken.“ Hinata war verblüfft über ihre Verblüffung, wo sie doch einfach hätte wissen können, dass ihr Aufgabenbereich nur die Vervollkommnung Hyugas umfassen würde. Lächeln, Hinata-chan. Immer lächeln.
„Wie du wünscht, tou-sama.“
Hiashi nickte in einer Geste, die beabsichtigt zeigte, wie wenig Interesse er für seine Tochter hegte. „Heute werdet ihr mit in die Firma kommen. Die Presse weiß, dass Hyuga wieder vereint ist – und dieses Ondit müssen wir festigen.“
Hinatas Blick fiel vorhersehbar auf Neji, der seine Hände gelassen und mit nach oben geöffneten Handflächen auf den Stuhllehnen platziert hatte. Er war so kompliziert. Sie sah nie, was er als nächstes tun wollte, sie verstand nie, was er dann tat. Hinata schluckte trocken und griff vorsichtig nach dem Wasserkrug. Als sie ihr Glas gefüllt hatte und an die Lippen setzte, konnte sie plötzlich – für einen kurzen, lasterhaften, schrecklich verlockenden Moment – ihre Gefühle nicht im Zaum halten. Tränen sammelten sich schnell, als wüssten sie nicht, wann sie das nächste Mal herauskommen würden, durften. In ihren Augenwinkeln verschwamm die Sicht. Hinata stellte das Glas lautlos auf den Esstisch und versuchte sich zu entspannen. Sie warf einen Blick in die Runde. Ihr Vater am einen Ende des Tisches, das andere unbesetzt. Ihre Großmutter zu Hinatas Linken, ihr gegenüber Neji. So viele Abwesende dazwischen. Und so viel Leere.
Die glückliche Familie, huh?
Sie grub ihre Fingernägel tief in ihre Handflächen: „Darf… darf i-ich aufstehen?“
Augenblicklich lagen die Blicke aller auf ihr. Hiashis Augen voller Verachtung für den Menschen, den er sein eigen Fleisch und Blut nennen musste, ihre Großmutter Katsumi, verbittert und stumm wie eine Tote. Sie hob sich unwillkürlich Nejis Musterung zum Schluss auf. Sie war so dumm, dass sie immer noch hoffte.
Du störst, Hinata. Er war so gleichgültig, dass die Tränen wieder aufstiegen. Leise schob sie den Stuhl zurück, legte ihre ordentlich gefaltete Stoffserviette neben die Porzellanschüssel. Ihre Schritte waren langsam und bedacht und graziös.
Aber sie wusste, dass es niemanden interessierte.
Ihre Augen brannten.
Wenn sie türmen würde…
Wenn sie gehen würde…
Hinata schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht. Oder?
Niemand merkte etwas davon.
„Sie hat geweint, Hiashi.“
Neji hob seinen Blick nicht bei den Worten, aber bei dem Schweigen, was darauf folgte. Unnachgiebig.
„Ja.“ Hiashi legte sein Besteck beiseite. „Ich weiß, Katsumi.“
„Siehst du nicht, was du da machst? Das alles wird sie zerstören.“ Hinatas Großmutter hob ihre Stimme nicht, und das Gewicht dahinter lag weder im Ton noch im Wort. Es war eine einfache Tatsache, und wenn diese Frau wirklich glaubte, dass es etwas Neues war, dann war sie tatsächlich zu alt für dieses Leben. Für diesen Clan.
Die Zeit dehnte sich in diesen Momenten, wie so oft in Nejis Leben, und sie zog sich und machte sich bereit für einen Todesstoß.
„Ich weiß.“
„Sie wird genauso zugrunde gehen wie Hiroko. Du hast mir meine Tochter gestohlen, Hiashi, und ich hasse dich dafür. Du hast Hanabi zerstört. Willst du wirklich so oft den gleichen Fehler machen, Schwiegersohn?“
„Sie ist anders.“ Hiashis Blick war klar und durchsichtig, inmitten von all dem Weiß und dem Marmor. Und genau deswegen konnte man nichts gegen ihn machen. Wie sollte man gegen etwas gewinnen, das keinen Widerstand leistete, weil es ihn nicht brauchte?
„Hiroko war stark. Hinata ist schwach. Darin ist der einzige Unterschied“, sagte Katsumi. „Das einzige, was sich verändert hat.“ Mit diesen Worten stand sie auf und verließ mit langsamen, müden Schritten den Speisesaal.
Neji fixierte seinen Onkel. Dann die Tür, die ins Schloss gefallen war. Und er fragte sich, wie lange er die Wut noch aushalten könnte, die er in sich verspürte, als er die einzige Person gehen sah, die sich um Hinata sorgte. Wie er den Hass auf Katsumi aushalten könnte, wenn er wusste, dass sie alles sah, aber nichts tat. Weil sie es nicht wollte. Weil sie keine Kraft mehr hatte.
Und er fragte sich, wie sehr er selbst daran schuld war, dass seine kleine Cousine gerade wirklich geweint hatte. Obwohl sie so sehr an ein verschrecktes Reh erinnerte und so zart war wie eine Schneeflocke auf der Fingerkuppe – obwohl alles in ihrem Leben schief ging… sie hatte noch nie in seiner Gegenwart geweint. So lange kannte er sie und er sah erst jetzt langsam die Spuren Hyugas in ihrer Signatur.
Neji schloss die Augen.
Denn er wusste, er würde ihr nicht helfen.
Ino lachte. Herzhaft. Ehrlich.
Es war ein heller, klarer Ton, und es schnitt Sakura eine kleine Kerbe ins Herz, dieser echte Ton zwischen all dem Spiel.
„Tatsächlich? Und du hast wirklich Seife gegessen? Wegen einer Wette?“ In ihrer Stimme klang Verwunderung und eine Spur Neckerei.
Sakura nickte grinsend: „Natürlich hab ich Seife gegessen. Ich war arm und jung – und ich brauchte die Hygiene.“
Sie waren nicht mehr in dem Café, in dem die Leute begannen hatten, sie nach den ersten bizarren Erzählungen aus der Vergangenheit der beiden anzustarren, sondern saßen in einem bizarr großen Kaufhaus in der Innenstadt Tokios auf einer der Bänke und unterhielten sich. Immer noch. Es war grandios.
Vielleicht kannten sie sich nicht, aber sie waren auf einer Wellenlänge und hatten auch schon längst E-Mail-Adressen und Handynummern ausgetauscht, giggelnd wie kleine Schulmädchen, die an nichts anderes dachten als an Seifenwetten und Jungsküsse.
„Und? Läuft momentan was bei dir?“, hakte Ino nach. Ihr Lächeln war noch sonniger als davor. Strahlend. Blendend.
So ein großer Unterschied zu der Dunkelheit außerhalb dieses hellen Gebäudes.
Sakura zuckte mit den Schultern, etwas bedauernd, dass es jetzt zu den Lügen kommen würde, etwas hoffend, dass es vielleicht trotzdem gut laufen würde. „Ich bin in einer Sozusagen-Beziehung mit Hyuga Neji.“
Ino grinste anerkennend. „Kaviar unter den Häppchen.“
Plötzlich nachdenklich schüttelte Sakura den Kopf. „Ich würd eher sagen… er ist der erste Strich, den man auf die Leinwand setzt.“
„Das klingt verliebt“, bemerkte die blonde Frau, während sie den Kopf schieflegte.
„Hypnotisiert“, versetzte Sakura. Sie lachte über sich selbst und setzte dann an: „Und was ist mit dir?“
„Glücklich liiert“, leuchtete Ino und vor so viel Sonne und Freude sah sie nur noch aus wie ein Mädchen, das nichts wusste. Aber Sakura beobachtete sie. Trotz allem hast du gute Augen… Sakura. Wie ein Mädchen, das nichts wissen wollte. „Und wer ist dein Begünstigter?“
Für einen kurzen Moment bekam ihr blauer Himmel einen Riss und was man dahinter sehen konnte, war… nichts. „Es ist eine sie. Matsuyama Hikari.“ Ino sah gespannt auf ihr Gesicht, und unerwartet war sie so offen, dass man ihr alles ablesen konnte.
Sakura lächelte: „Hey, ich bin Künstlerin. Unsereins hat Homosexualität und FKK-Strände erfunden!“
Inos Mundwinkel zitterte leicht. „Ich weiß immer noch nicht, wie ich darauf reagieren soll, Sakura.“
„Dass du lesbisch bist?“
Ino zuckte hilflos mit den Schultern: „Es ist Liebe, mehr nicht. Das hat nichts mit Frau oder Mann zu tun, verstehst du? Ich wünschte, ich wäre wieder in einen Kerl verliebt, das wäre um einiges einfacher. Ist ja nicht so, als wäre meine Beziehung Friede-Freude-Eierkuchen! Nein, ich hab auch noch ein Exemplar, das irgendwelche komischen Gefühlskomplexe hat, und sie sagt, dass sie mich liebt, aber sie nichts erwartet. Und ich dachte immer, das eine gehört zu dem anderen. Anscheinend habe ich mich da getäuscht!“
Sakura war eine genauso gute Zuhörerin wie Beobachterin. Sie nickte, beeindruckt von Inos Ehrlichkeit und Ungeniertheit, berührt von der Art, wie sie über Hikari redete, mitfühlend ob der Probleme, die zwischen den beiden standen.
„Und jetzt“, Ino verschluckte sich fast an dem Wortschwall, „ist da auch noch –“ Urplötzlich stoppte sie und seufzte. Ihre Augen waren resigniert auf einen Punkt hinter Sakura fixiert, als sie sagte: „Danke, dass du mir zugehört hast.“ Und das blau hinter ihren Himmelsspiegeln war nur noch schwach und schal. Aber Sakura drehte sich nicht um. Du beobachtest, Sakura. Das ist es, was du kannst.
Sie sollte nicht handeln.
„Kein Problem, Ino. Hab ich gerne gemacht. Aber ich muss jetzt auch mal langsam los. Ich meld mich per SMS oder so, ja?“
„Ja.“ Ino lächelte galant, als sie sich mit einem einfachen Händedruck verabschiedeten. „Man sieht sich.“
Ohne einen Blick hinter sich zu werfen, ging Sakura zielstrebig aus dem Kaufhaus heraus gen Bushaltestelle. Aber sie war schließlich auch so gut genug, um die dunklen Augen, die mit dem Regen schwebten, auf ihrem Rücken gesehen zu haben.
Du wirst nichts davon verlernen.
Sie lächelte kurz, als der langsame Schmerz sie erbeben ließ.
Du wirst nichts davon vergessen.
Und immer wieder sah sie seine Augen.
Vor allem nicht die Fehler.
Es war so grauenvoll schön.
~ Sag mir, ist ein Mensch schuldig, wenn er nichts weiß? ~
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Übrigens ist morgenblau der erste Teil einer Dreier-Kapitel-Geschichte. Charaktere, die aufeinander treffen sollen, treffen aufeinander. Natürlich nicht alle, wäre ja langweilig - aber es wird auf jeden Fall spannend^^ Konflikte werden ausgegraben und so weiter. Ich hoffe, es gefällt euch und danke euch für die wirklich supercoolen Reviews.
bells
PS: Zitat aus thefreedictionary.com